Der Turm
noch. – Hab’ mal einen Patienten gehabt, der hier gearbeitet hat. Ein Arbeitsunfall mit interessanten versicherungsrechtlichen Folgen. Hat sich einen Dorn in den Zeigefinger gezogen, die Wunde ist vereitert, schließlich mußten wir amputieren. – Hier stinkt’s wie Erdöl. Würde mich nicht wundern, wenn Arbogasts Chemielabor hier einleitet. Ist doch alles tot, da unten.«
»Wer weiß«, erwiderte Meno. Die Statuen, grün überwitterter Marmor, standen am Ufer der Schwarzen Schwester bis zu den Hüften in Brennesseln und Asphodelen; hier und dort war das Gesicht eines steinernen Kriegers in den umschlingenden Rosen zu sehen; Amazonen mit Pfeil und Bogen, die Meno beim letzten Besuch noch bis zur Brust frei gesehen hatte, waren von den Hecken fast vollständig verschluckt worden.
»Du machst ein Buch mit Arbogast, hat mir Anne gesagt?«
»Seine Autobiographie, ich helfe ihm, sichte Material, höre ihm zu. Er ist sehr für das Mündliche.«
»Was sagt er über seinen Aufenthalt in Sotschi? Es gibt ja allerlei Gerüchte.«
»Nicht Sotschi. Sinop.«
Richard nickte. »Ja, das weißt du besser, du bist ja dort geboren.«
Meno schien den Seitenhieb nicht zu bemerken. »Bisher haben wir noch nicht darüber gesprochen, und du weißt ja, wie es ist: Vielleicht bleibt dieser Abschnitt draußen. Es hängt nicht von uns ab.«
»Er hat mir einen Brief geschrieben, er will mit der Klinik zusammenarbeiten. Medizinische Projekte zur Tumorbekämpfung.« Richard war die kleine Spitze ohne langes Nachdenken entschlüpft, nun wollte er gern etwas Verbindliches zu Meno sagen, der ihm wortkarg und wenig zugänglich erschien; es mußte weder an ihm noch an Christians Sache liegen, vielleicht war es nichts anderes als die Hitze: »Übrigens, die Streichquartette, die du mir geschenkt hast – große Klasse. Das Amadeus-Quartettspielt überragend. Die bei Eterna scheinen zu wissen, was sie für ihre knappen Devisen einkaufen.«
»Nur das Beste.« Meno lächelte. »Was sagt Niklas dazu?«
»Referenzaufnahme. Er hat sie ja. Allerdings nicht von Eterna, sondern das Original der Deutschen Grammophon. Er deutet an, daß ich den Unterschied zur Kenntnis nehmen sollte.«
»Ah«, Meno war nun um eine ernsthafte Stimme bemüht, »habt ihr schon getestet, welche Aufnahme den besseren Tonmeister hatte?«
»Das kann man nicht sagen, sowohl unser Mann als auch der von drüben ist ein Meister seines Fachs, aber die Grammophon hat nun einmal die besseren Mikrophone und Boxen, da beißt leider die Maus keinen Faden ab. Und natürlich das bessere Vinyl.«
»Aber du hast den besseren Plattenspieler?«
»Wo denkst du hin. Nicht einmal den besseren Saphir. Niklas ist da fair, das muß ich ihm lassen. Es wäre ja kein Problem für ihn, die Sache per Mitbringsel ein für allemal zu entscheiden. Aber das wäre Hochsprung auf dem Mond, da kommen nur die Amerikaner hin und siegen bloß über sich selber, das macht auf Dauer keinen Spaß.«
»So selbstironisch? Die heilige Musik, die deutsche zumal?«
»Naja, der Normalfall sind wir nicht, das geht mir schon auf«, Richard lachte. Meno hatte ihn zum letzten Mal auf der Geburtstagsfeier lachen sehen, als er die »Tauwetterlandschaft« bekommen hatte. Meno dachte an Christian und schwieg. Er sah hinüber zum Skatgericht, einem selbst in der Entfernung deutlich baufälligen pseudobarocken Palais, das früher einem Fotopapier-Hersteller gehört hatte; an den Fahnenmasten vor dem Gebäude schlappten vier Fahnen, Kreuz-As, Pik-Dame, Herz-König und Schellen-Zehn, Lichter brannten, man schien über Anfragen zu brüten.
Hinter der Rosenschlucht, im Tal der Schwarzen Schwester, befanden sich DEFA-Studios, man konnte von der Brücke aus die Baracken und Gleise sehen, auf denen Kulissen hin- und herfuhren. Das Studiogelände war eingezäunt, es gab Wachttürme, hohe, kobrahaft gebogene Peitschenlaternen mischten ihr trübes Licht in das der Scheinwerfer von den Türmen. Einriesiger Sandmann grüßte, vom jenseitigen Talausgang kam sein Hubschrauber langsam auf ihn zu, auf einem dritten Wagen der Schlafsand, Richard und Meno beobachteten es in einen Winkel gedrückt, den die Rosen aus der Schlucht schon erobert hatten. Die Glühbirnen, die in einer Kette über der Brücke hingen, gingen an, aber nur etwa die Häfte brannte, manche raspelten, würden bald verlöschen.
»Komisch, daß man niemanden sieht«, sagte Richard, »die Kulissenwagen scheinen von allein zu fahren.«
»Vielleicht ferngesteuert«,
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