Der Turm
Ballungen milchigen Grüns, die barocken Schloßgebäude in Sicht, die ein Nachfolger des askanischen Herrschergeschlechts auf dieser Insel hatte errichten lassen.
»Er möchte Sie allein sprechen«, sagte der Assistent zu Richard. »Was soll ich inzwischen tun?«
»Sie können im Sekretariat bei einer Tasse Tee warten, Sie können sich im Park frei bewegen – ganz wie Sie wünschen, Herr Rohde.«
»Dann werde ich spazierengehen. – Viel Glück, Richard.«
Richard folgte dem Assistenten. Sperbers Kanzlei lag in einem der pavillonartigen Nebengebäude, die das Askanische Schlößchen, Sitz des Obersten Bezirksgerichts, flankierten. Die Flure waren mit grauem, schrittdämpfendem PVC belegt, Neonröhren gaben das ungesund wirkende, eitergelbe Licht, das für Behörden typisch war. An einer Tür mit einem einfachen Schild »RA Dr. Sperber« klingelte der Assistent, kurz darauf summte es, die Tür öffnete sich. Sie war gepolstert. Am Sekretariat vorbei, in dem ein Telex-Gerät und mehrere schwarze Schreibmaschinen standen, gingen sie in Sperbers Büro. Der Assistent sagte »Herr Doktor Hoffmann« zur Zimmerdecke und zog sich zurück. Sperber saß am Schreibtisch und schrieb, ohne aufzublicken. Er wies Richard auf den Stuhl ihm gegenüber. Richard strich sich übers Jackett und setzte sich zögernd.
»Entschuldigen Sie, das ist dringend, bin gleich fertig.« Der Rechtsanwalt sah noch immer nicht auf. Hinter seinem Schreibtisch, an der Wand und auf einem Regal, tickte eine Uhrensammlung; sämtlich gute Stücke, wie Richard mit demgeübten Blick des Uhrmachersohns feststellte. Einige gerahmte Grafiken des Malers Bourg, dicht schraffierte, spinnwebhafte Zeichnungen; Richard dachte an die »Schwarzen Pflanzen«, die bei seinem Bruder im Korridor hingen. Über einem Waschbecken ein kleiner Spiegel auf Krawattenknotenhöhe. In der Ecke ein bequem aussehendes Sofa mit Tisch und Sesseln, vielleicht für prominente Besucher oder für Sperber selbst, wenn er Zeitungen las: Stapel der »Frankfurter Allgemeinen«, der »ZEIT« und der »Süddeutschen Zeitung« lagen auf dem Tisch; offenbar gehörte Rechtsanwalt Sperber zur schmalen Schicht derer, denen ein Abonnement dieser Presseerzeugnisse gestattet – und finanziell möglich war. Über dem Sofa hing ein Querner. Matrjoschka-Puppen schien Sperber ebenfalls zu sammeln, ein Brett in den mit Akten vollgestopften Wandregalen gehörte ihnen. Ein Kachelofen, die Kacheln mit blauen Windmühlen in Delfter Manier. An freien Stellen neben der Uhrensammlung gerahmte Diplome und Dankschreiben; eine Urkunde für den Vaterländischen Verdienstorden in Gold.
Sperber wedelte das Frischgeschriebene trocken, tat es in die Ablage, zog zwei Hefter aus einer Schublade. »Herr Hoffmann, ich will weder Ihre noch meine Zeit verschwenden, darum gleich in medias res. Ich habe hier zwei Fälle. Für einen von beiden kann ich etwas tun. Unsere Rechtsprechung ist merkwürdig. Selten werden zwei einander ähnliche Fälle – wie eben der Ihres Sohnes und dieser hier – gleich beurteilt. Bekomme ich den einen, büße ich den anderen ein. Das habe ich oft erleben müssen. Ich werde also die Angelegenheit abgeben, die ich nicht annehme, das ist ein Gebot der Klugheit. Anderer Jurist – neue Chance. Leider besitzen nicht alle Kollegen meine Erfahrung; weshalb sich ja auch so viele Klienten an mich wenden, wir brauchen nicht um den heißen Brei zu reden. Welchen Fall soll ich Ihrer Meinung nach abgeben?« Er legte die gespreizten Finger auf die beiden Hefter und sah Richard neugierig an.
»Den meines Sohnes nicht«, antwortete Richard nach einer Weile.
»Sehen Sie, ähnlich hat der andere Vater auch geantwortet. Versetzen Sie sich in meine Lage … Was soll ich tun? Jener Vaterwill, daß Ihr Kind verliert, dieser Vater will, daß dessen Kind verliert …«
»Wenn es eine Frage des Honorars ist –«
»Es ist keine Frage des Honorars, Herr Hoffmann. Es ist eine Frage der Zeit.«
»Aber könnte nicht, ich meine: Ihre Zeit eine Frage des Honorars … Sie lieben Uhren.«
Sperber lächelte. »Mit diesen Dingen fangen wir gar nicht erst an. Ich bin Jurist geworden, weil ich die Gerechtigkeit liebe. Wo kämen wir hin, wenn die Rechtsprechung denen folgt, die mehr zu zahlen imstande sind. Nein. Ich entscheide das auf meine Weise.« Sperber zog ein Geldstück hervor. »Ordnen Sie Ihrem Jungen Kopf oder Zahl zu.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Allerdings«, antwortete Sperber. »Und bevor Sie mich verurteilen,
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