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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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für den sowjetischen Alltag, aber … dieser Kosmonaut auf dem Ziffernblatt.«
    Sie warteten.
    »Nun ja«: Der Kreisschulrat seufzte tief, schob die Zeichnung, die Stoffproben, die Uhr von sich: »Ich muß es an den Bezirksschulrat weiterleiten.«

    Flußabwärts, umschlossen von Nebenarmen der Elbe, lag die Askanische Insel. Dorthin wollten Richard und Meno, nachdem ein Treffen mit dem Bezirksschulrat ergebnislos verlaufen war: Er hatte sich als ängstlicher, unentschlossener Mann entpuppt, der Christians Akte wie eine heiße Kartoffel fallenließ: »Achgottachgott, was kommt da wieder auf mich zu, diese Schwierigkeiten immer, Herr Doktor Hoffmann! Sie ahnen ja nicht, was täglich so alles einläuft. Erst gestern hatten wir einen ähnlichen Fall … Was ist nur los mit unserer Jugend? Was kommt da wieder? Ich kann nichts machen, rein gar nichts. Das muß höher hinauf. Ich kann das nicht entscheiden, tut mir leid.«
    Blieb Rechtsanwalt Sperber.
    »Danke, daß du das arrangiert hast«, sagte Richard zu Meno. Sie standen vor der Grauleite, einen Teil der Arbogastschen Institute im Rücken. »Hat es dich große Überredungen gekostet – ich meine: War er ungehalten? Immerhin gehöre ich ja nicht zur Familie, und du bist nicht mehr mit Hanna verheiratet.«
    »Er hat sofort zum Telefonhörer gegriffen.« Meno zündete sich seine Kugelkopfpfeife an, sah noch einmal die Papiere durch. »Ob wir Sperber trauen können, was meinst du?« Richard wirkte nervös, sie waren schon in Sichtweite der Wachen in der Grauleite, gleichzeitig konnte man sie von der Sibyllenleite sehen und vom Buchensteig, der hier mündete. Bis auf ein paar fußballspielende Kinder auf dem Platz vor Schloß Rapallo und dem Restaurant Sibyllenhof waren die Straßen leer, doch würde die Standseilbahn bald wieder Menschen hochbringen, die aus der Stadt von der Arbeit kamen. Aber es dämmerte schon, die in diesem Jahr unerbittliche Julisonne sank, die tagsüber wie eine Scheibe aus kochender Milch am steinweißen Himmel stand, kenntlich nurdurch Druckschlieren, die in Wellenkreisen abpulsten; als wäre die Luft ein Körper, dem die tiefstehenden Strahlen Schnittverletzungen zufügten, hatte sie eine Lineatur aus rötlich-metallischen Verfärbungen überzogen, wundgescheuertes Licht: Hämoglobin, das sich auf den Zäunen, den Glanzflächen dunkler, spiegeleiheißer Autodächer, dem rissigen Asphalt auf den Straßen in Flugschichten ablagerte, seine Lebensröte vorher und die Eisenmoleküle preisgab, glitzernder Rost, der liegenblieb.
    »Natürlich hat er Kontakt zu denen«, Meno nickte zum Betonblock auf der Grauleite. Unter den Antennen sah er wie ein gespickter, mißratener Braten aus, der in einem Mauerring wie in einer hochbordigen Terrine schmorte. Aus einem Fenster war Schreibmaschinengeklapper zu hören. »Londoner sagt, wenn uns einer helfen kann, dann Sperber. Er hat auch Joffe angerufen, aber der hat abgelehnt: Kein Angeklagter, kein Verteidiger. Solche Angelegenheiten hätten in einer Kanzlei nichts zu suchen.« »Die stecken doch alle unter einer Decke. Kein Anwalt hierzulande, der nicht ihre Schatten wirft. Wir haben bloß keine Wahl.« Der Posten am Einlaß kontrollierte geduldig sämtliche Papiere, führte einige Telefonate und ließ die beiden Männer mit einem herrischen Nicken passieren. Am Ende der Straße stand ein schwarz-gelb gestreiftes Wächterhäuschen mit Schlagbaum, der wachhabende Soldat warf nur einen flüchtigen Blick in ihre Ausweise und gab ihnen, ohne eine Frage zu stellen, zwei Viertelscheine. Wenn Sperber das geregelt hatte, wie zu vermuten war, mußten sie sich auf ein langes Gespräch einstellen. Sie betraten die Brücke.
    »Bist du schon mal hiergewesen?« fragte Richard, der vor Meno lief; auf der Brücke hatten kaum zwei Menschen nebeneinander Platz. Sie bestand aus Eisen und hatte ein mit Maschendraht geschlossenes Geländer; auf einem verwitterten Schild stand »Grauleite«, darunter kyrillisch »Min njet«, mit dem Soldaten der Roten Armee nach dem Krieg Häuser gekennzeichnet hatten.
    »Einmal mit meinem Leitenden Lektor und einem Autor, einmal mit Hanna«, antwortete Meno, »aber beide Male waren wir nicht bei Sperber, sondern bei Joffe.« Joffe: der glatzköpfige Rechtsanwalt mit Hornbrille, den viele Menschen aus dem Fernsehenkannten: Schweres Geschmeide an den Fingern, die er zur wohlabgemessenen Rede spreizte, moderierte er die vierzehntäglich ausgestrahlte Sendung »Paragraph«, in der er schwierige und

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