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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Meno hob die Hand, aus einem der Studios ertönte Musik: Wir se-hen erst den A-ha-bend-gruuß – e-he je-des Kind ins Bettchen muuß …, die bekannte Melodie der Sandmännchen-Sendung, die zehn vor sieben begann. Sie gingen weiter. Westernkulissen waren zu sehen, ein überlebensgroßer DEFA-Indianer schwang seinen Tomahawk auf einem Plakat. Daneben standen Batterien von Gartenzwergen, eine Laube war aufgebaut, wahrscheinlich für die beliebte Fernsehsendung »Du und dein Garten«. Scheinwerferlicht streifte die Wetterfee am Eingang des Geländes, einen auf einer Antenne hockenden Pappadler, Emblem der Montagabendsendung »Der schwarze Kanal« von und mit Karl-Eduard von Schnitzler, genannt »Sudel-Ede«. Hier arbeitet die Zwirnevaden, dachte Meno.
    Je näher sie der Askanischen Insel kamen, desto nervöser wurde Richard, malte Schreckensszenarien, was mit Christian geschehen konnte, wenn Sperber keinen Ausweg finden oder sich des Falls, entgegen Londoners Versicherung, nicht annehmen würde. »Was könnten wir dann noch tun?« Er ging Namen durch. Ob Londoner selbst nichts unternehmen könne, immerhin sei er ein Vertrauter des Staatsratsvorsitzenden; ob Meno um einen Termin bei Barsano nachsuchen würde, oder vielleicht bei Arbogast? Der sei doch ein einflußreicher Mann, geschätzt von den Oberen, ein wichtiger Devisenbringer.
    »Warten wir erst mal ab, was Sperber sagt«, versuchte Meno zu beruhigen. Aber auch er machte sich Gedanken, was man noch tun konnte, wenn Sperber sich reserviert zeigte. »Und Christian? Hat er inzwischen diesen Text geschrieben?« »Dieser Text« war Annes Einfall gewesen, Christian sollte seine Sicht der Dingedarlegen, erklären, warum er die Erinnerungen eines U-Boot-Kommandanten aus Hitlers Kriegsmarine gelesen hatte.
    »Ja. Dem Bezirksschulrat und auch der Schulkommission hat das vorgelegen.« Wieder verfiel Richard in Nachdenken, nannte neue Namen, prüfte sie, hieß gut oder verwarf.
    »Hat er sich inzwischen ein bißchen erholt?«
    »Er ist, sagen wir, wieder einigermaßen ansprechbar. Inzwischen scheint er begriffen zu haben, was er angestellt hat. Anne und ich haben beraten: Sollte das alles gutgehen, wäre es das beste, wenn er in diesem Jahr nicht mit uns in Urlaub fährt, sondern in sich geht, sich allein erholt. Bei Kurt. Du kannst ihn ja besuchen, das wird ihm sicher guttun. Er soll ein paar Wochen seine Freiheit haben und nachdenken. Vielleicht hat er eine Freundin? Mir sagt der Junge ja nichts.« Richard sah Meno an, Meno hob die Hände.
    Die Brücke endete an einem Warnschild, das Unbefugten das Betreten der Insel in vier Sprachen verbot. Dichter Wald wuchs zu beiden Seiten des ausgetretenen Weges, durch die Baumkronen drang nur noch wenig Licht, Meno und Richard zuckten zusammen, als plötzlich eine Wache ihre Papiere zu sehen wünschte.
    »Passieren«, sagte der Mann, die Silben gleichmäßig betonend, und winkte die beiden Männer in Richtung Fährstation durch. Faulgeruch breitete sich aus, im Zwielicht schlummerten gelbschwarze Blüten, Bilsenkrautwiesen in fimbrienfeiner, wie saugender Bewegung, obwohl kein Lüftchen ging. Der Waldboden war mit Fichtennadeln bestreut, es herrschte die wattige, schallschluckende Atmosphäre eines Treibhauses. Meno hustete: ein echolos kurzes, von der sirupartigen Luft sofort geglättetes Geräusch. Er wunderte sich, daß keine Vögel zu hören waren, auch keine sonstigen Waldgeräusche: Astknacken, Warnrufe eines Eichelhähers, die leise Gischt des Laubes in den lustlosen Feierabendwinden, die Tausende geruhsam auf- und abbewegter Zweige im Hintergrund die Dunkelheit heraufzeichnen ließen mit dem sanften, stimmlosen Strich von Bleistiften auf Papier.
    Richard warf zwei Groschen in den Münzkasten an der Fährstation, Meno zog den Hebel, die beiden Geldstücke klickten ausder gekammerten Drehscheibe; ein graubärtiger Schaffner kam aus dem Warteverschlag der Station, in deren Fenstern Geranientöpfe standen, wies die beiden Männer wortlos zur Fähre, einem rostigen Flachboot mit Schanzkleid und Steuerhaus. Der Graubärtige ließ den Motor an, die Fähre schob sich hinaus auf den pechschwarzen Flußarm, an dessen Ufern, metallisch weiß prangend in träger Strömung, Massen von Seerosen wucherten. Während der Überfahrt wechselten Meno und Richard kein Wort, jeder beobachtete hellwach.
    Auf der Askanischen Insel wurden sie von einem Assistenten Sperbers erwartet. Er führte sie einen illuminierten Weg entlang; bald kamen, zwischen

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