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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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empfand (und die, im übrigen, auf Gegenseitigkeit beruhte). Alle, die Hart gelesen hatten, nickten entweder heftig oder machten sich in entrüsteten Gesten Luft, gleichgültig ließ er niemanden, besonders nicht die Autoren, mit denen er sich beschäftigte: Eschschloraque wünschte sich Moskauer Verhältnisse, »wo ich dieses Subjekt hätte unschädlich machen lassen können«; der Alte vom Berge fand Hart »großartig, wissen Sie, er hat mich verrissen, aber ich sehe, daß er recht hatte«, und Schiffner sagte: »Ein wichtiger Mann, leider. Er hilft uns wirtschaften, wenn er lobt, er hilft uns wirtschaften, wenn er verreißt, wir sehen betroffen diese Frage offen, wenn er schweigt.«
    Typograf Udo Männchen litt unter der Hitze offensiver als Josef Redlich: Häufiger als sonst trat er aus seinem Grafischen Atelier am Ende des Gangs, raufte sich die wuschelige Lockenpracht, hob die Brille gegen das Licht, ließ sie resigniert baumeln. Er wedelte eines seiner theaterhaft geschnittenen Oberkleider (indisch-hawaianisch-buddhistisch, Hemden waren es nicht) und rief: »Dante! Ich werde die Dante-Antiqua nehmen, denn wir brutzeln«, in den Flur.
    »Ruhe!« rief aus dem Korrektorat, schräg gegenüber, Korrektor Oskar Klemm.
    »Oder doch keine Dante«, Udo Männchen setzte die Brille wieder auf und ließ die Arme sinken. »Eschschloraque, der Königder Zierfische, ist Klassizist; mit Dante aber hat der Untergang begonnen. – Was meinen Sie, Herr Rohde, sollten wir nicht gerade die Dante für ihn nehmen, als tiefempfindende Menschen?« »Er würde es bemerken«, erwiderte Meno lächelnd.
    »Bemerken, o ja! Das würde er! Und würde mich packen und zausen, er würde mich verdammen – Männchen, würde er drohen, das geschah auf den Flügeln schwacher Lungen! Das ist gewissermaßen intellektuell-elementar, was Sie sich da geleistet haben. Sie haben bei mir … wertester Lektor! Jetzt kommt was Schlimmes. Ein schmutziges, ein unbelletristisches Wort. Graphisch nicht anschaulich. Verschissen.«
    »Er würde es nicht verwenden, Herr Männchen.«
    »Nein, da muß ich Meno recht geben«, Stefanie Wrobel holte sich, wenn sie Udo Männchen hörte, gern einen Kaffee oder ein Eis, »wir wissen zuverlässig, daß ihn ein einziger sogenannter Kraftausdruck oft zwei bis drei Stunden kosten soll.«
    »Ihm«, korrigierte Josef Redlich mit schwacher Stimme aus seinem Stübchen. »Ihm, Madame Eglantine. Wenn Sie schon Lichtenbergiana bringen, dann bitte korrekt falsch! Heft F, Anmerkung 1155: Wir wissen zuverlässig, daß ihm … undsoweiter.« »Wieso ist es nur so heiß? Oder nehme ich die Walbaum … Eine schöne, eine edle Schrift. Goethes gesammelte Werke in der Insel-Dünndruckausgabe sind in der Walbaum gesetzt. Er würde es bemerken …«
    »Herr Männchen, es gibt in diesem Hause auch noch Leute, die sich mit Arbeit beschäftigen«, knurrte Oskar Klemm, »und außerdem: Was wissen Sie denn von Goethe.«
    »Oder verlasse ich mich auf die zarte Zeitlosigkeit der Garamond? Aber Eschschloraque vermeidet die Kursivschrift, und die Garamond ist die Königin der Kursiven. Man müßte überhaupt nur Kursives drucken, finden Sie nicht, Herr Rohde? Von den Mönchhandschriften ist die Kursive gekommen, bei den Mönchen beginnt die Ewigkeit. Mehr Ewigkeit in der Literatur! Oder eine Bodoni? Eine Bembo, diese Charakter-Antiqua, gereift wie ein alter Käse? Sie trägt den Namen eines Kardinals … Vielleicht müßte man ganz und gar radikal sein?« Männchen verdrehte die Augen und vollführte Karateschläge in der Luft. »Eine Sans-Serifen-Schrift, kahl und klar und schnörkellos wie einHackebeil … Courier, das ist die Schreibmaschinentype. Freilich wieder eine Serife. Erinnert ihn an goldene Zeiten …? Vorladungsschrift, und keiner lacht mehr, keiner wagt zu mucksen … Übrigens, Herr Klemm, wissen Sie nichts von den Beatles.« Udo Männchen begann die Melodie von »Yellow submarine« zu pfeifen.
    Meno und Madame Eglantine wechselten betretene Blicke. Oskar Klemm schwieg eine Weile. Er war fünfundsiebzig Jahre alt und sollte längst in Rente sein; die Rente aber, die er nach fast sechzig Berufsjahren bekommen würde, war lächerlich gering. Schiffner drängte ihn nicht hinaus, Oskar Klemm war eine Legende; zu Hause wartete niemand auf ihn, seine Frau war beim Bombenangriff auf Dresden ums Leben gekommen, seine Kinder wohnten längst außerhalb. Der Verlag war sein Leben, Goethe seine lebenslange Liebe, Pferderennen, die er auf der

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