Der Turm
Platz in unangenehm unregelmäßigem Rhythmus. Josef Redlich wollte Jalousienschatten im Zimmer haben, bevor er sich zur Literatur setzte – und bevor das Telefon, eine schwarze Kröte, die auf einem Tablett an einer Wandschere hockte, zu stören begann. Die Temperatur stieg schon an manchen Vormittagen über 30°, dann lockerte selbst Korrektor Oskar Klemm seinen Schlips, der Verbrauch an Leipziger Speiseeis, von dem im Verlagskühlschrank stets ein Vorrat lag, führte zu Lieferengpässen, und Josef Redlich stellte den Fußboden in seinem Zimmer voll bunter Plastschüsseln, die er mit kaltem Wasser füllte und barfuß abschritt – dabei legte er die Hände auf den Rücken, qualmte seine Knasterzigarren (Meno konnte nicht herausfinden, was für eine Marke es war, Redlich zog sie aus einem Lederetui; Madame Eglantine sagte: Bahndammernte), betrachtete manches Mal ein Hühnerauge auf dem mittleren linken Zeh, sinnierte: »Was das schon gesehen hat, wieviel Länder schon mit mir durchschritten!« und dachte nach, in der Josef Redlichschen, mit Lichtenberg-Zitaten beiseite träumenden Art. Manchmal hing er im Stuhl, die Weste spannte sich über dem runden Bauch, gab aberkeinen Knopf nach, die Taschenuhr lag, noch an der Kette, aufgeklappt vor ihm auf dem Tisch, vom weißen Stärkhemd mit den stets untadelig glatten Ärmeln (er ließ bügeln, er war schon lange Witwer und trug auf dem rechten Ringfinger zwei Eheringe) waren die Manschetten umgeschlagen, Adern traten an den herabbaumelnden Händen hervor, auf den Kugelkopf hatte er ein nasses Taschentuch drapiert, von dem vier Zipfel wie Astronautenhörnchen abstanden. In diesen Augenblicken sah er aus, als hätte ihn der Schlag getroffen; aber wenn Meno besorgt näher kam, winkte er nur müde ab: »Oh, Herr Rohde, ich muß noch etwas Prose kommandieren, aber sehen Sie mich an … mit größerer Majestät hat selten ein Verstand stillgestanden!«
Josef Redlich hätte nie seinen privaten Geschmack zur objektiven Instanz erklärt. Das taten pädagogisch ambitionierte Imperatoren des bundesdeutschen Feuilletons wie der Großkritiker Wiktor Hart, dessen Artikel Josef Redlich mit starrer Zigarre las, wobei der Aschkegel zu statisch berückender Länge wuchs; dann legte er die Blätter beiseite (numerierte Kopien), tupfte den Stumpen ab und bemerkte: »Man sollte ihn ernst nehmen«, oder »Seine Stilmittel sind zaunskräftig, wenn Sie mir das Wort gestatten, ein Zaun entsteht ja gerade dadurch, daß er sein Grundelement, die Latte, immer wieder fortsetzt; es ist nicht klar, ob der Wunsch nach Abwechslung hier verfehlt wäre«, oder »Von Lyrik versteht er nichts, er verwechselt sie mit den Ausrufezeichen am Rand unserer Biographien«, dann äugte er zu Meno, heiter auf Widerspruch gefaßt, der auch nicht lange auf sich warten ließ, denn Meno las die mit Furor geschriebenen, kenntnisreichen und von der Sache der Literatur geradezu besessenen Kritiken gern; Hart teilte ohne Rabatt aus, ein Anwalt des gesunden Menschenverstands (der freilich in der Literatur, dieser vagen Kunst der Empfindungen, Widersprüche und Träume, nicht immer wunschgemäße Ergebnisse zeitigte: halbverrückte Autoren hatten halbverrückte Unsterblichkeiten verfaßt; mancher Vertreter des relevantesten Realismus’ nichts als glasklare Schrullen); ein Wettergott, der grob wurde, weil er eine Nuance vernachlässigt fand, und der sich schützend vor sein Heiligtum stellte – wobei er selbst diesen Begriff nie gebrauchte, auch ein Wort wie Seele nicht, er verspottete es, schob es von sich, setztees in Gänsefüßchen, witterte Schmus. Er verstand viel, so schien es Meno, und er besaß die Tugend des geborenen Kritikers: Er verriß nicht mit Genuß (wenngleich seine Verrisse genußreich zu lesen waren), und ihm stand die differenzierte, folgenreiche Klaviatur des Lobens zur Verfügung. Hart war eitel, aber er war es für die Literatur, und er war uneitel genug, manche Angelegenheiten aus Takt oder Diskretion unausgesprochen zu lassen; Meno spürte auch immer, daß er, im Grunde, von sich kein Aufhebens machen wollte, da gab es ein »Das gehört sich nicht« und viel stille Menschenkenntnis. Alle, die seine Kritiken bekommen konnten, lasen sie sofort, aber nicht alle im Verlag hatten dieses Privileg, Kopien gingen an Schiffner, die Leitenden Lektoren und die Parteisekretäre, in der Dresdner Edition an Lektor Kurz; daß Meno sie lesen konnte, verdankte er der Sympathie, die Josef Redlich offenbar für ihn
Weitere Kostenlose Bücher