Der Turm
Galopprennbahn in Seidnitz und in Berlin-Hoppegarten verfolgte, seine Passion, Mozart gehörten seine Ergriffenheit und gut verborgenen Tränen; er konnte im Flur stehen, abends, wenn sich der Trubel gelegt hatte, der Plattenspieler ging, das Adagio der Gran Partita mit seinem duftenden, elysischen Bläsersatz, und hob, wenn Meno kam, den Finger an die Lippen, nahm die Brille ab, blieb mit weggewandtem Gesicht und geschlossenen Augen stehen. Herr Männchen gehörte zu einer anderen Generation; jugendliche Banausen, die nicht über den Tellerrand ihrer Schlaghosen-Interessen blickten; man mußte nachsichtig sein.
»Wissen Sie«, Oskar Klemm stand inzwischen in der Tür, »›Yellow submarine‹ ist sehr populär, aber ›Lucy in the sky with diamonds‹ oder ›A hard day’s night‹ scheinen mir, rein musikalisch betrachtet, profunder. Und natürlich die unsterblichen ›Penny Lane‹ und ›Yesterday‹. Und daß ›She loves you‹ bei aller Einfachheit eine ganz gewichtige Aussage trifft, ist mir auch in meinen Jahren nicht zweifelhaft.«
Oskar Klemm ging leicht gebeugt, aber noch nie hatte ihn jemand ohne Krawatte gesehen. Außer im Verlag war er am liebsten auf der Pferderennbahn und in den verschiedenen Dresdner Antiquariaten, besonders gern bei Dienemann Nachf. und in Bruno Korras »Papierboot« auf dem Lindwurmring. Entdeckte er einen Fehler in einem schon vom Lektoratdurchgesehenen Text, beugte er sich in der Nachmittagssitzung über den Konferenztisch, nahm die Brille ab und blickte betrübt die Reihe der Lektoren entlang – außer Madame Eglantine, Meno und Parteisekretär Kurz noch Felizitas Klocke, genannt Miss Mimi, ein ältliches Fräulein mit einer Vorliebe für harte, aktionsgeladene Melodramen, Samuraischwerter und Alain Delon als jugendlichem Killerengel: Sie züchtete Kakteen, trug Bommelmützen, mochte Schlangen und Verschwörungstheorien und konnte kein Blut sehen; den Schreibtisch gegenüber hatte Melanie Mordewein, genannt Frau Adelaide, die die Romantiker betreute und viel träumte; sie wirkte so luftig, als wäre sie nicht geboren, sondern gehäkelt worden. Nachdem Oskar Klemm eine Weile Kummer geschwiegen hatte, flüsterte er, der im alten Insel-Verlag und in Kippenbergs Villa noch Hofmannsthal gesehen, dem Stefan Zweig Goethe-Memorabilien gezeigt hatte, dem ein falsches Komma, ein falsch recherchierter Begriff schlaflose Nächte bereitete: »Bitte … Meine Damen und meine Herren … Bitte, bädänken Sie … Es ist … Es soll sein … Literatur …! Also Sprache. Ein lebendiges Wesen aus Worten … Das Sprichwort sagt: Der Dichter lebt vom Sattel oder Stegreif – sprich: vom Raube unter freiem Himmel. Der Dichter darf. Wir aber müssen … nun, bitte … bädänken Sie. Der Dichter ist der Komponist. Wir sind seine Musiker … Wir müssen spielen, was in den Noten steht. Es muß sein. Seien Sie korrekt.«
Danach referierte Disponent Kai-Uwe Knapp den Stand der Angelegenheiten in der Druckerei. Weil Papier knapp und der Plan heilig war, weil Druckmaschinen knapp waren, weil Druckerschwärze auch schon knapp gewesen war, weil Drucker knapp sein würden, weil zu alledem die knappe Zeit und Koordinationsschwierigkeiten mit der Zentrale in Berlin kamen, würden die Manuskripte des Lektorats 7 dann gedruckt werden, wenn all diese Knappazitäten einmal nicht knapp gewesen sein würden. Da half auch der Klassenstandpunkt nichts, den Lektor und Parteisekretär Ingo Kurz mit Vehemenz vertrat. Er verstand trotzdem etwas von Literatur. Oskar Klemm saß während der Ausführungen von Kurz und Knapp mit gesenktem Kopf. Er hatte den Angriff auf Dresden erlebt. Er ließ seine Tür immer angelehnt.
36.
Erste Liebe
Grünes Wasser splitterte von den Schaufelrädern, zerstäubte zu Gischt, die am Dampfer entlangtrieb, am Heck ins breite Fahrwasser strudelte, in dem die auffächernde Kiellinie des mahlenden und stampfenden Schiffs allmählich verschwand. Christian stand an der Bugreling und ließ sich den Wind ins Gesicht wehen, der nach Gräsern und nassem Zellstoff roch – das Industriegebiet von Heidenau mit seinen Schornsteinen und Abwasserrohren, aus denen graue Brühe in die Elbe schwappte, glitt vorüber. Das Schiff war voller Ausflügler, Ferienlagerklassen mit aufgeregt schnatternden Kindern und genervt ermahnenden Betreuern; Rucksackwanderer, die sich abseits hielten wie die wenigen Elbsandsteingebirgs-Einwohner: zu erkennen an den verarbeiteten Gesichtern, der unmodischen Kleidung; die
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