Der Turm
von Raumheizung (Heizstufe 1) wird vom Kombinatsdirektor des Energiekombinates in Abstimmung mit dem Vorsitzenden der Bezirksenergiekommission entschieden.
»Von der Sowjetunion lernen, heißt frieren lernen«, witzeln die Wartenden vor Hauschilds Kohlehandlung.
Im Frühjahr trennte sich Josta von Richard. Sie schrieb ihm einen Brief: Da er sich von seiner Frau nicht scheiden lasse, habe sie die Konsequenzen gezogen; auch gebe es inzwischen einen anderen Mann. Sie werde heiraten. Sie und ihr Verlobter würden Richards Versuche, Lucie wiederzusehen, zu beeinflussen oder das Sorgerecht anzufechten, unterbinden lassen. Ihr Verlobter habe Beziehungen. »Lebe wohl.«
Eines Abends sah Christian seinen Vater um die Ecke Wolfsleite zur Turmstraße biegen. Richard hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben und den Blick zu Boden gesenkt. Christians erster Impuls war, sich hinter einem der parkenden Autos zu verstecken und abzuwarten, bis sein Vater vorübergegangen war; aber Richard hatte ihn schon entdeckt: »Na, Junge«, sagte er und hob die Schultern dabei wie ein magerer, großer Vogel, der fror. Sein Blick wirkte müde, nicht kühl forschend wie sonst. »Kummer?« setzte Richard nach, berührte Christian leicht mit dem angewinkelten Arm, ohne die Hand aus der Tasche zu nehmen.
»Nee.« Christian bemühte sich, seiner Stimme einen unbeteiligt wirkenden Klang zu geben. »Du?« Er erschrak über seine Vertraulichkeit, die gewollte Lustigkeit hallte nach. So hatte er noch nie mit seinem Vater gesprochen, es gehörte sich nicht, so von gleich zu gleich, er zog den Kopf in den Kragen seiner Parka. »Alles reinfressen, hm?« sagte Richard und lachte leise auf. »Alles reinfressen, so ist das. Hoffmanns und Rohdes: Man hält den Mund.«
»Meno sagt: Ein weiser Mann –«
»– geht mit gesenktem Kopf, fast unsichtbar, wie Staub. Chinesisches Sprichwort. Er hält sich ganz gut dran. Die Kunst des Lügens … Wird dir vielleicht noch nützen, wer weiß.«
»Gehst du nach Hause?« wehrte Christian ab.
»Noch nicht.«
»Kann ich dich begleiten?«
Richard sah auf, dann trat er plötzlich auf Christian zu und umarmte ihn. »Ich muß noch ein bißchen allein gehen, mein Junge. – Tut mir leid, daß ich nichts machen konnte, mit der Armee. Die vom Wehrkreiskommando hatten mir versprochen, daß sie dich zu den Sanis ziehen.« Aber so war es nicht gekommen, Christian war zu den Panzern gemustert worden.
»Werd’s schon überstehen.«
»Geh du mal da lang, und ich gehe da lang«, Richard wies in die beiden Richtungen der Turmstraße. –
Es ist Lektüre-Zeit: Orwell wird gelesen, kursiert in mühselig hergestellten Schreibmaschinen-Kopien: Abschriften mit der Hand, wie bei den Mönchen, wären zu leicht erkennbar, man weiß von Fällen, in denen die Sicherheit allen Haushalten eines Stadtbezirks Einschreiben zustellen ließ, um eine Vergleichsprobe auf der Quittung zu bekommen, Diktate schulpflichtiger Kinder wurden geprüft, Klausuren von Studenten, Schriftstücke des Ehepartners, der das Einschreiben nicht quittiert hatte. Es ist die Zeit der Kettenbriefe, der Abziehbilder, der in den Schulklassen kursierenden Poesiealben, die Jungen im Stimmbruch mit funkelnden Einfallsreichtümern wie »Eigner Herd ist Goldes wert« oder »Sei wie die Lilie im Tale, / wie das Veilchen bescheiden und klein, / nicht wie die stolze Rose, / die immer bewundert will sein« füllen. Auf dem Postamt geht es betriebsam zu: Neben der summenden Fernsprechzelle – Herr Malthakus telefoniert mit einem Briefmarkenfreund aus Übersee –, neben der Zwanzig- und Zehnpfennigstücke schluckenden Ortsgesprächszelle – Gemüsehändlerin Zschunkes Mutter ist ins Krankenhaus eingeliefert worden – steht eine Warteschlange am Paketschalter, um Solidaritäts-Pakete nach Polen zu schicken. Pfarrer Magenstock hat eine Liste vor der Kirche anschlagen lassen, welche Güter am dringendsten benötigt werden, welche man (da sie auf denpolnischen Schwarzmärkten am meisten einbringen, dieser Grund steht freilich nicht auf der Liste) auf die weite Reise schicken sollte; auch Adressen sind angeheftet. Deutscher und Polnischer Post, Grenz- und Zollbeamten, dunklen Händen im Inneren der Volksrepublik schenkt man wenig Vertrauen. Kaffee, Zucker (die Kilopackungen zu 1,55 M werden einkaufsnetzweise aus dem »HO Lebensmittel« und dem »Holfix« geschleppt), Kinderkleidung, Zigaretten, Mehl. In der Pelzschneiderei »Harmonie« werden die Fellschnipsel gesammelt,
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