Der Turm
da fragst du, ob du das Mädel lieben sollst? Sag mal, bei dir knistert’s wohl unterm Turban? Jetzt hör mal zu. Glaubst du, uns hat Politik interessiert, als wir in deinem Alter waren? Denkst du, Ina interessiert sich einen Deut für die politischen Einstellungen ihrer Aktuellen?«
Sollte sie vielleicht, dachte Christian.
»Aber das hast du von deinem Vater. Christian, eins im Vertrauen: Dein Vater ist ein bißchen … na, wie soll ich sagen? Verklemmt? Wir hatten neulich eine Diskussion, aber da fällt mir ein, von der darfst du gar nichts wissen. Enöff. Du brauchst eine Freundin, ein Junge in deinem Alter ohne, da würde ich mir als Mutter aber Gedanken machen. – Warum rufst du Anne eigentlich nicht an?« »Sie soll sich keine Sorgen machen, Tante Barbara. Bitte sag ihr auch nichts.«
»Na, enöff. Ich bin verschwiegen wie ein Grab. Weißt du, wie ein Mädchen küßt, und was da sonst noch folgt … Rote Rosen, na ja, undsoweiter: Das hat mit Politik nichts zu tun.« Barbara seufzte, und er sah ihre gespreizten, beringten Finger vor sich,hörte die Armreifen in der Telefonmuschel aufklirrren: »Du bist nur einmal jung!«
Meno warnte. So ungehalten hatte Christian seinen Onkel noch nie erlebt. Er hätte gern einmal mit ihm über Hanna gesprochen, aber niemand in der Familie schien je danach gefragt zu haben, warum Menos Ehe gescheitert war.
»Wenn sie dich denunziert? – Danach zu urteilen, was du mir erzählt hast, solltest du damit rechnen.«
»Du glaubst wirklich, sie würde mich denunzieren –«
»Obwohl sie dich liebt, wolltest du sagen? Die Schwärmereien passen zu Barbara, nicht zu dir, Christian. Was weißt du von Liebe? Was weißt du, was möglich ist?«
Christian war verletzt; Meno schien es zu spüren, er sagte: »Sie küssen dich, und sie verraten dich. Beides im gleichen Atemzug. Es muß nicht immer so sein. Aber manchmal ist es so, und du kannst nichts mehr riskieren. Vielleicht ist Reina eine Ausnahme. Aber eben nur vielleicht. Was, wenn du’s testest und ins offene Messer läufst?«
»Ich mag sie sehr … Wie sie geht, wie sie sich bewegt und«, Christian zögerte, beobachtete seinen Onkel von der Seite, »ihre Achselhöhle«, setzte er lächelnd und vertrauensselig hinzu. Meno lachte auf. Als ob eine Machete ihm zwischen Zeige- und Mittelfinger das Fleisch aufhackte, empfand Christian.
»Ihre Achselhöhle? Und das nennst du Liebe? Das ist nur Sexuelles. Du solltest allmählich begreifen lernen, daß du dich in diesem Land nicht wie ein kleines Kind benehmen kannst.«
»Jetzt klingst du wie Vater«, brauste Christian empört auf. »Nur, weil du und Hanna –«
»Nichts von Hanna.«
Christian tat es leid, aber er wollte sich nicht entschuldigen, er fühlte sich verletzt.
»Wir wollen dir nichts Böses. Schon gar nicht will das dein Vater. Aber er wird dir nicht mehr helfen können, wenn wieder so etwas wie im Wehrlager passieren sollte. Wenn du Reina verrätst, wie du wirklich denkst, und sie erzählt es weiter … Es muß nicht einmal in böser Absicht sein. Vielleicht nur aus Stolz auf dich, aus Naivität, oder schlicht, um peinliche Gesprächspausen zu überbrücken … Viel geschieht aus Langeweile. Willst du fürdieses Mädchen deine Zukunft aufs Spiel setzen? Kannst du für Reina die Hand ins Feuer legen? Kennst du sie so genau, weißt du wirklich, wie sie reagiert, was du für sie bist? Kennt sie sich selbst?«
»Also muß ich deiner Meinung nach, ehe ich mich verlieben darf, erst ein Dossier über das Mädchen anlegen?«
»So ist es«, erwiderte Meno kalt. »– Ich kann dich besser verstehen, als du vielleicht glaubst. Nein, man darf nicht jung sein hierzulande. Ich würde nicht so mit dir reden, wenn ich nicht jemanden gekannt hätte, dem das passiert ist, wovor ich dich warne.«
»Wer war es denn?«
»Vielleicht später«, wich Meno aus.
»Nein, jetzt«, beharrte Christian.
»Dein Großvater Kurt«, sagte Meno nach langem Zögern.
»Oma hat ihn angezeigt?«
Meno schüttelte den Kopf, setzte wieder zum Sprechen an, brach wieder ab. »Nein, umgekehrt. Es war in der Sowjetunion, in einer schrecklichen Zeit. Er hat es uns Kindern an seinem siebzigsten Geburtstag erzählt. Ich möchte, daß du mit niemandem darüber sprichst.«
Interludium: 1984
Abends öffneten sich Türen in den Traum. Abends blieben die Hüllen der Körper, wenn das mutabor gesprochen war. Im Januar ’84 quollen die Mülltonnen über, die Asche mußte in den Schnee daneben geschüttet werden,
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