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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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lächelt.
    Christian hatte Winterferien. Er war zum Medizinstudium zugelassen worden. Seltsamerweise empfand er kaum Freude darüber, eher Erleichterung, auch Müdigkeit; schlechtes Gewissen denen gegenüber, die abgelehnt worden waren. Das Berühmtwerden schien ihm nach den Erlebnissen im Wehrlager und mit Reina nicht mehr so wichtig. Seit Beginn der 12. Klasse lernte er kaum noch, seine Zensuren hatten sich verschlechtert, was nicht nur Dr. Frank beunruhigte. Es hatte Aussprachen im Lehrerzimmer gegeben; er sang nicht mehr in Uhls Chor mit, war aus dem Gruppenrat der FDJ ohne Angabe von Gründen ausgetreten, verschloß sich noch mehr. Als Hedwig Kolb einen Aufsatz über die wesentlichen Kennzeichen sozialistischer Literatur verlangte, schrieb Christian einen einzigen Satz: Sie lügt. Hedwig Kolb benotete seinen Aufsatz nicht, nahm ihn beiseite und sagte, sie müsse diesen Aufsatz verlangen: ob er nicht. Seine Zulassung sei vorläufig, er wisse das, ob er denn. Er bekam eine Stunde Nachsitzen, schmierte unter Aufsicht von Herrn Stabenow, der sich immer noch enthusiastisch für die Physik, kritischen Forschergeist und vorurteilsfreies Wahrheitsstreben einsetzte, irgendeinen Wisch mit den üblichen Phrasen zusammen, den ihm Hedwig Kolb ohne Kommentar und mit der Note Zwei minus zurückgab. Reina ging er aus dem Weg. Verena war jetzt oft in Dresden. Siegbert mußte sich einen anderen Beruf suchen, man hatte ihn wegen mangelnden gesellschaftlichen Engagements bei der Handelsmarine abgelehnt. Er wußte noch nicht, was tun. Wenn Swetlana am Abendbrottisch im Internat eine Diskussion anfing, löffelte Christian schweigend seine Suppe, und wenn Falk in Blödeleien ausbrach und Jens Ansorge ansteckte, ging er spazieren, stand lange an der Wilden Bergfrau oder amKaltwasser, wo nur ein paar Eisangler mit Mormyschka-Ruten hockten und trübselig in die Wunen starrten. Auch zu Hause ging er oft spazieren, was Richard zu der Bemerkung veranlaßte, daß der Junge zuviel grüble und spintisiere in letzter Zeit, vielleicht täte ihm regelmäßige Ausarbeitung gut, eine Freundin; er in Christians Alter … Anne meinte, wenigstens käme er durch seine Spaziergänge an die frische Luft, und wenn er nicht reden wolle, solle man das respektieren. Christian vernachlässigte das Cello. In der Tasche trug er Reinas Briefe. Vor Hauschilds Kohlehandlung standen lange Schlangen, das scharfe Geräusch der Schaufeln, mit denen Plisch und Plum rasch kleiner werdende Briketthügel abtrugen, zerschnitt die Gespräche der Wartenden. Es war die Zeit der Theatervorstellungen, von Erik Orrés Rezitationsabenden, Kellner Adelings und Konditor Binnebergs »Schokoladenkochküche für Kinder und solche, die es werden wollen« im Foyer der »Felsenburg«: Blockschokolade wurde in Tiegeln und Töpfen zu dunkelbrauner, weihnachtlich riechender Masse geschmolzen, in Backmodel aus der Konditorei Binneberg gegossen: worauf Schokoladen-Karavellen ihre Buge wölbten, die der Konditor, ein feister Mann mit vielen geplatzten Äderchen in Boxerhundwangen, aus einer Spritztüte mit Zuckergußsegeln und süßtriefender Takelage versah; Pittiplatsch mit herausgestreckter Zunge und weißer Fondant-Stirnlocke sich wie in einem Spiegelkabinett auf den Tischkanten vervielfältigte; Napoleonköpfe und Feldschlangen von der Festung Königstein das Entzücken der Väter fanden. Pro Schokoladenguß verlangten Binneberg und Adeling eine Mark, gaben sie in einen Spartopf, auf dem »Solidarität« stand; davon kauften sie Spielzeug in der Spielwarenhandlung König in der Lübecker Straße und schenkten es den Kindern des Kinderheims »Arkadi Gaidar« auf dem Lindwurmring: Ein heruntergekommener, ausladender Bau im Schweizerstil neben den von der Roten Armee requirierten Villen.
    Im Rundfunk werden mit Beginn der kalten Jahreszeit täglich die Heizstufen ausgegeben. Die Bekanntgabe der Heizstufen gilt für Betriebe und Einrichtungen, in denen Gebäude und Anlagen nicht mit einer funktionsfähigen Leistungsregelung ausgestattet sind. Sie beinhalten maximale Heizzeiten für die Raumheizung,Heizstufe 1 entspricht einer täglichen Heizdauer von höchstens vier Stunden, wobei die Raumlufttemperatur (für Büroräume, Schulen, Kinos und andere gesellschaftliche Einrichtungen 19-20° C) nicht überschritten werden darf. Heizstufe 0: Keine Raumheizung für alle Betriebe und Einrichtungen, für ausgewählte Gebäude bzw. Räume (z. B. Krankenhäuser) bestehen Ausnahmeregelungen. Der Beginn

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