Der Turm
manchmal wuchteten die Türmer, auf Initiative einer Bürgerversammlung, die Tonnen auf einen LKW, der die Asche in den Wald fuhr. Zeitungen stapelten sich, zerfetzten in frostscharfen Böen. Die Bezirkshygieneinspektion empfahl, Kalk über die Abfälle zu schichten. Der Kalk wurde an Straßenverantwortliche ausgeteilt, bei denen sich die Anwohner Eimer füllen ließen: Nicht in die Augen streuen. Nicht in Kinderhand.
Andropow starb.
»Und nun?« fragten die Türmer, wenn sie beim Bäcker, beim Fleischer oder vor dem Konsum in der Schlange standen. »Kommt der nächste jugendliche Held!« flüsterten sie achselzuckend bang.
Zigarettenqualm, aquarische Rauchkringel, Augen deckenwärts im Funzellicht einer Wohnung irgendwo im Prenzlauer Berg. Fensterläden, von denen die Farbe geplatzt ist, mit Zeitungen verstopfte Ritzen, steinharter, bröselnder Fensterkitt; der Kachelofen tut, was er kann, aber Sperrholz, Zaunlatten, schimmlige Kohle reichen nur für ein paar Stunden Wärme am Tag. Männer in Schafswollpullovern, mit biblischen Vollbärten, Arbeiterhänden, in den nikotingelben Fingern Bierseidel und eine »Karo« oder »f6«, hören einem Lyriker zu, der mit Schreibmaschine auf Holzschliffpapier geschriebene Texte vorliest, hastig, fehlerhaft, absichtlich ohne deklamatorischen Pomp, man ist unter sich, man wünscht hier nichts Hochgestochenes. Judith Schevola hört zu, beobachtet, raucht. Sie hat Meno in diese Kreise eingeführt, zu denen man erst nach Passage mehrerer Hinterhöfe mit Schußspuren aus dem letzten Krieg Zutritt bekommt, nach Nennung eines Losungsworts an der vorsichtig geöffneten Tür,die kein Namensschild trägt, nach teils verstohlener, teils offen aggressiver Musterung, die der Neuling über sich ergehen lassen muß: es gibt zu viele Spitzel, und nicht immer ist die Witterung untrüglich. Meno spürt, daß er ein Fremdkörper ist, aber er wird geduldet, niemand scheint seinetwegen ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Der Lyriker liest. Es sind Texte mit hochgestellten Kragen und tief herabgezogenen Schiebermützen. Er hat in einer der Zeitschriften veröffentlicht, die auf dem Tischchen in der Mitte des Zimmers liegen, dessen Luft von Menschendunst und Tabakrauch zum Schneiden dick ist. Das Tischchen würde ohne das »Kommunistische Manifest« unter einem Bein unweigerlich umkippen, das »Kommunistische Manifest« versieht diesen Dienst im Wechsel mit einer Broschüre über Geschlechtskrankheiten, nachdem es Proteste basisdemokratisch orientierter Zuhörer gegeben hat. Die Zeitschriften atmen die Frische der Unbotmäßigkeit, tragen Titel wie POE SIE ALL BUM, Anstöße, UND, POE SIE ALL peng, sind auf dünnes tschechoslowakisches Durchschlagpapier zum Preis von zehn Kronen á 2000 Blatt im Siebdruckverfahren gedruckt – nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch! so umgeht man die Druckgenehmigungsverfahren. Es fehlt an Klammeraffen, die zuverlässig mehr als fünfzehn Blatt zu heften vermögen. Es fehlt an Papier – der Eintritt zur Lesung bestand in einer bestimmten Menge Schreibpapier, das weiterhin für den innerkirchlichen Dienstgebrauch geheftet oder zu Leporellos gefaltet und mit brisanten Umweltthemen in einer Auflage von zehn bis fünfzig Stück gefüllt werden kann. Meine Hand für mein Produkt.
Und dann? fragen die Türmer.
Sarajevo ruft, ein Wölfchen winkt den Zuschauern vor den Fernsehschirmen zu. Hochhäuser, kahle Berge um einen Talkessel, Tristesse, die von keiner Kamera, von keinem Reporter, der zu den ersten Winterspielen in einem sozialistischen Land akkreditiert ist, hervorgesucht und mit unbestechlicher Linse festgehalten wird. Da ist das Eisstadion, da ist die schön gespurte Loipe für die Skiläufer, die Sprungschanze, auf der Jens Weißflog aus Oberwiesenthal mit streng parallel geführten Brettern zu Gold und Silber springt. Erinnert man sich an einen Sommertag vor siebzig Jahren, als ein Student an einer Straßenecke auf das Autodes österreichischen Thronfolgers wartete? Die Eiskönigin tritt an zur Kür. Ihre Trainerin steht mit hartem Gesicht hinter der Bande, während ihr Schützling, mit Flatterröckchen und Kirgisenbrauen, schleifenreichen Wohllaut auf die Eisfläche schreibt. Ausrufezeichen eines dreifachen Toeloops, Pirouettenwirbel, durchsichtig verpackte Rosensträuße, Heinz Florian Oertel schwelgt in Tüll und Taft. Torvill/Dean tanzen zum Bolero, ein Schwede läuft im Schlittschuhschritt die Hänge hinauf. Das schönste Gesicht des Sozialismus’
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