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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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»geht alles nach Polen!« gibt Barbara den Kindern zu verstehen, die an der Tür klingeln; in Sonderschichten nähen die Schneiderinnen Winterbekleidung aus den Resten, liefern sie stolz am Paketschalter ab, wo die Gehilfin, eine asthmatisch schnaufende Frau mit Thrombosebinden an den Beinen, in Pantoffeln mit rosafarbenen Plüschmäusen akkordweise, wie sonst nur zu Weihnachten, hanfverschnürte Quader auf die Stückgutwaage wuchtet und mit blauem Fettstift die Bestimmungs-Postleitzahl (Nullen groß wie Wärmflaschen) auf dem Packpapier wiederholt, den ausgefüllten Paketschein mit einem Leimpinsel tränkt und auf das Paket klatscht. Es riecht nach diesem Leim in der Post. Es riecht nach nassen Regenschirmen, die im Vorraum in einem Plastköcher trocknen; es riecht nach Postmeister Gutzschs Bernhardiner, der kalbsmaßig und teilnahmslos im Durchgang hinter den Schaltern auf einer Decke liegt. Die Sondermarken, die anläßlich des bevorstehenden 35. Jahrestags der Republik herausgegeben werden, riechen nur schwach nach Gummierung und Gutzschs erkaltetem Stumpen, den er manchmal auf den Rand des Befeuchtungsschwamms legt, wenn er prüft, ob Adressat und Absender korrekt auf dem Briefkuvert vermerkt sind; am Stumpen vorbei zieht er eine der gedruckten und feinumrändelten Schmalspurbahnen durch den nassen Schwamm, oder aus foliantgroßer Postmappe eine Statue aus Balthasar Permosers Jahreszeiten-Briefmarkenreihe, sucht und mißt akribisch, bevor er den Frühling, den Sommer kleben läßt, greift zur Stempelbirne und läßt es zweimal knallen: ta-teng, zuerst ins Sattschwarz eines Vorkriegs-»Pelikan«-Stempelkissens, dann, mit Wonne, auf die jungfräuliche Marke; eine Prozedur, zu der Postmeister Gutzsch noch nie »entwerten« gesagt hat.
    Regine wartete. Unter der Reispapierlampe im Wohnzimmer, die Jürgen gebastelt und mit Fliegenden Fischen bemalt hatte, im Garten des Blasewitzer Hauses in der Straße, die nach einer kämpferischen und aufrechten Sozialistin benannt worden war, am Waldpark, wo winters die Kinder rodelten und Schlittschuh liefen, sommers die Eis- und Limonadeverkäufer bunte Kälte anboten, – im Garten inmitten von Statuen, die Jürgen aus dem Sandstein der Lohmener Steinbrüche gehauen hatte: einem Würfelfries mit Kindern unter Früchten, einem Frauentorso, zwei Jungen nach den Kindern Hans und Philipp, saß sie und wartete. Sie wartete am Telefon, wenn Richard und Anne das Wohnzimmer in der Karavelle verließen, um sie mit der Stimme Jürgens allein zu lassen, die am anderen Ende der Leitung aus dem Trubel der großen und lichterdurchsprühten Stadt München knackend und fernrauschend, begleitet von einem zweiten Knacken, »Hallo« sagen würde, wenn sie spazierengingen, um Regines Schluchzen nicht hören zu müssen, nicht zu Zeugen des Schweigens zu werden, das nach fast vier Jahren Trennung hin und wieder entstehen mochte und das der Alltag nie ganz verschütten konnte: Wie geht es den Jungs? Kommen sie in der Schule klar? Habt ihr Wünsche, was soll ich euch schicken? – Und du? Hast du inzwischen eine Stelle gefunden? Eine Wohnung? Mein Gott, das ist ja alles wahnsinnig teuer. Regine wartete, wenn der Laternenmann die meterlange Stange mit dem Haken am Ende vom schwarzen Fahrrad nahm, den Haken in eine Öse im verschmutzten Glas-Sechseck einer Gaslaterne steckte, einen Lichtball aufblies, einen nach dem anderen in den Straßen des Viertels; sie wartete an den Donnerstagen, wenn der Eiswagen kam, gezogen von zwei teilnahmslosen Haflingerpferden, wenn die Glocke des Eismanns aufmerksamkeitsfordernd laut, wie gekränkt durch verschlossene Fenster und nicht aufgehobene Gardinen entlang der sommerlich stillen Straße, mit ihrem schrillen Hier bin ich! die Anlieferung frischer Eisblöcke verkündete, die der Eismann mit einer Bauklammer vom Wagen hinunterreichte – fischschimmernd, gläsern glatt wurden die Klötze in die Küchen-Eiskästen geschoben, wo sie in wenigen Tagen auf daruntergehängte Schalen tauten; vor-elektrische Kühle für Butter und Fleisch, Milch und Marmelade.
    Es ist der Monat der Arbeiterfeierlichkeiten: »Alles heraus zum 1. Mai!« hofft ein Transparent an der Mauer des Städtischen Friedhofs Dresden-Tolkewitz.
    Es ist die Zeit, in der jeden Mittwoch dreizehn Uhr eine Sirene über der Stadt aufheult und den Ernstfall probt, in der nachts von den sowjetischen Übungsplätzen rings um die Stadt Maschinengewehrknattern in den Schlaf dringt, tags Jagdbomber Kondensstreifen in

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