Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
Lukendeckel, der Ladeschütze jammerte: »Jetz’ is’ Kriech, verdammich, jetz’ is’ der Kriech ausjebrochen«, der Richtschütze sagte: »Halt’s Maul da drüben, du hast ja noch mehr Tage als der Eiffelturm Nieten, ich hab’ meine Zeit fast rum, und jetzt das – Nemo, weißt du was?«, Christians Antwort wurde zum Stottern gebrochen durch die wippende Ausfahrt aus dem Kontrolldurchlaß des Parks: »Das waren Einsatzbefehle, die der KC hatte; abwarten«, dann mußte er, wie es Vorschrift war, wenn sie die Stadt durchquerten, vor seinem Panzer und hinter dem Muskas hertraben, Lukenstrahler am Turm an, damit rote und gelbe Einweiserflagge für Pfannkuchen zu sehen waren; entlang der Fahrstrecke, es war am Stadtrand, schwappten Lichter in den Häusern auf, die heruntergekommen waren, von Baugerüsten gestützt und vom Ziegelkrebs zerfressen; Schatten in den Fenstern, und Christian dachte: Was mögen die von uns denken, ob sie uns hassen, ob wir ihnen gleichgültig sind (das war unwahrscheinlich um diese Uhrzeit), ob sie uns bewundern oder bemitleiden mit unserer Afrikakorpsausstattung: Motorradbrille auf der Panzerhaube, die Mitella, ein dreieckiges Stück Stoff, das Sanitäter zum Ruhigstellen von Armbrüchen verwendeten, vor dem Gesicht wie ein Räubertuch, und in der Nacht und am Stadtrand schleichen wir uns raus – wohin?: Wechselkonzentrierungsraum, befahlen die Zugführer –

    »Liebe Barbara: Euer Paket ist angekommen, vielen Dank! Besonders brauchbar ist natürlich Onkel Ulis Seife, und da die hiesige Militärische Handelsorganisation seit einigen Wochen ›aus technischen Gründen‹ geschlossen hat, sind mir auch die elf Tuben Zahncreme sehr willkommen. Neun Monate ist der kleine Erik nun schon … Zwar heult er auf dem ersten Foto, das Du beigelegt hast, aber immerhin steht er aus eigener Kraft, und wieer auf dem zweiten den Bären benagt – ich nehme an, daß es sich bei den Flocken an der Seite um die Eingeweide handelt? – zeugt von beginnendem Einfühlungsvermögen. Du fragst nach zwei Dingen: Urlaub und Freundin. Mit dem Urlaub steht es so, daß ich nicht sagen kann, wie es mit dem Urlaub steht. Beantragt man, so gibt’s das berüchtigte 5 x G: gesehen, gelacht, gestrichen, Grund Gefechtseinteilung. Urlaub ist die große ungeklärte Frage in der Truppe … Ich hoffe, daß ich im frühen Herbst, vielleicht September oder Anfang Oktober, kommen kann, da liegen die Sommerfeldlager hinter uns. Übrigens weiß ich, welches Gorbatschow-Wort Du meinst, über das Du Dich mit Gudrun gestritten hast. Wir haben hier straffen Politunterricht, die Hefter, die wir dazu führen müssen, werden kontrolliert. Es war das Referat vor dem Plenum des ZK, auf dem es um die Einberufung des XXVII. Parteitags der KPdSU ging; kein Wort benutzte er häufiger und mit größerem Nachdruck als ›Beschleunigung‹. Heiße politische Diskussionen unter kalten Wasserflecken, dazwischen eine Oper, die niemanden außer Niklas und Fabian und vielleicht noch Meno interessiert: das sind die »Musikabende in Familie«, wie ich Deinem Brief entnehme. Ich gäbe viel darum, eine solche Oper hören zu können. Freut mich, daß Niklas den Wasserschaden über dem Sekretär mit meiner Dachpappen-Hilfe eindämmen konnte, trotzdem denke ich manchmal, wenn ich nachts wach in meiner Koje liege, daß im Musikzimmer bald Unterwasserpflanzen wachsen, aus den Fotos an den Wänden Nixensoprane und Fischorchester steigen werden.«

    ein Sperrgebiet voller Munitionskisten und abgedeckter Fahrzeuge, in dem die Truppe aufmunitionierte, Umstellung von der Übungsauf die hier liegende Gefechtsmunition; neue Befehle wurden ausgegeben, inzwischen war der Regimentsstab eingetroffen; Befehl, daß es weiterging, daß Funksprüche nur noch codiert zu senden seien; Christian ließ also absatteln, er wußte, was ihnen bevorstand: Schufterei unter antreibendem Gebrüll hin- und herhastender Offiziere, Granaten raus, Granaten rein im Akkord, Tarnung des Panzers, Abrücken zum Frachtgleis des Grüner Bahnhofs, Verladung der Panzer auf Eisenbahnwaggons, dann Transport mit unbekanntem Ziel –

    »Lieber Christian! Deine Eltern haben mir Deine Adresse gegeben, von ihnen erfuhr ich auch, daß Du bei den Panzern bist und es Dir nicht so gutgeht. Deswegen möchte ich Dir schreiben, und ich hoffe, Du bist mir nicht böse. Ich bin inzwischen in Leipzig, studiere Medizin – mit Chemie ist es doch nichts geworden. Aber Medizin ist nicht weit weg davon. Ich denke oft

Weitere Kostenlose Bücher