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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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an den Abend bei Deinem Onkel im Tausendaugenhaus, an die Paradiesvogel-Bar. Übrigens habe ich mir Kassetten aufgenommen, seit kurzem läuft Neustadt auf DT 64, wenn Du willst, kann ich Dir eine schicken. Wie Du an dem Tisch im Garten gesessen hast, als die anderen noch in der Bar waren, und ich nicht zu Dir hingehen konnte, weil Du ganz bei Dir warst, und ich das Gefühl hatte, daß Du keinen anderen Menschen brauchst, jedenfalls nicht in diesem Moment. Ich habe ein Zimmer im Wohnheim, zusammen mit drei Kommilitoninnen, eine davon Ungarin, die ist sehr lustig, mit ihr verstehe ich mich am besten. Es ist Abend, sie sind ausgegangen, ich sollte eigentlich lernen, aber dann habe ich zufällig den Titel eines Buchs gesehen, das eine meiner Kommilitoninnen liest, »Der Graf von Montechristo«, und auf einmal waren unsere Gespräche wieder da, die Wanderungen in der Sächsischen Schweiz, Deine Stimme. Dein Vater klingt ähnlich, ich war ganz erschrocken, als er sich am Telefon meldete, und er atmet auch ähnlich abrupt durch die Nase ein wie Du, wenn eine Gesprächspause zu lang wird. Ich merke schon, ich schreibe dumm, springe hierhin und dorthin, und dabei wollte ich mich einfach mal wieder melden! Auf der Karte anbei, das soll eine Flamingin sein – sagt man so? Die einen leeren Briefkasten anstarrt. Ich kann leider nicht so gut zeichnen wie Heike. Ich habe die Karte nicht zum Brief gesteckt, um Dir vorwurfsvoll entgegenzutreten, sondern weil der leere, leblose Briefkasten mir einfach nicht das vermitteln kann, was ich beim Lesen Deiner Briefe empfinde. Drei hast Du mir geschrieben, ich habe sie mir immer wieder durchgelesen. Es ist nicht ganz einfach, die rechten Worte zu finden, um das auszudrücken, was mich an Deinen Briefen so fasziniert. Unter Philosophie habe ich mir entweder Häuptling Roter Adler oder etwas Übernatürliches vorgestellt. Oder Spinner. Erst Deine Briefe haben mich dazu veranlaßt, mehr über dieses Thema wissen zu wollen – aber

    ein mürrischer Reichsbahnschaffner hielt vor den Panzern die Handlaterne hoch, nein, davon wisse er nichts, ja, Waggons stünden bereit, aber die seien nicht für die Armee bestimmt; und während sich die Stabsoffiziere an ihre Funkgeräte hängten, an Feldtelefonen kurbelten, tastete Christian nach Reinas Brief, nach den Konstantinopel- und Südsee-Talismanen; Lampen hingen wie weißglühende Töpfe über den Bahnhofsgleisen, von den Reichsbahnuhren, fliegendreck- und ascheverkrustet, waren die meisten defekt, hatten zerscherbte Gläser, verbogene oder nur einen Zeiger; ein paar Betrunkene kreiselten, Bierflaschen schwenkend und, sobald sie die Soldaten entdeckt hatten, in Zorn ausbrechend, auf den Bahnsteigen für denPersonenverkehr; sie schrien und fluchten, hielten sich knapp aufrecht mit vorgekippten Oberkörpern, schüttelten ihre Flaschen, bis Pfannkuchen, der aus dem Fahrerluk schaute, sagte: »Jungs, die sind gar nicht sauer. Die wollen uns Stoff verklickern!« und wieselte, unbemerkt von den Trägern der Silberschulterstücke, nach vorn, wurde rasch handelseinig und rannte geduckt zum Panzer zurück, wo er die Beute, ein Netz voller Bierflaschen, dem Ladeschützen zuwarf, der das Netz auf seiner Seite unters MG stopfte:
    »Verladung!« befahl eine barsche Stimme, Taschenlampen kreisten, das Zeichen für »Motoren anlassen«, die Panzer rückten vor an die Verladerampe:
    Christian und Pfannkuchen wechselten, der bessere Fahrer wies ein, der schlechtere fuhr; Christian stellte den Sitz hoch, es war ungewohnt, er war seit der Unteroffiziersschule nicht mehr gefahren, der Panzer ruckte an, viel zu schnell ließ Christian die Kupplung kommen, Rampe möglichst gerade hinauf, die Kanone über seinem Kopf warf einen starken Schatten, links blendete ein Halogenstrahler, jetzt die Rampenschräge, lotgerade mußte der Panzer vor dem Waggon ausgerichtet werden, Pfannkuchen mußte den Schwenkmoment exakt abpassen, ein Panzer hatte keinen Kurvenradius, der drehte auf der Stelle, und auf dem Waggon würden die Kettenglieder links und rechts weit überstehen, Pfannkuchen ruckte mit den Wimpeln, Christian zupfte an den Lenkhebeln, jetzt winkte Pfannkuchen »anhalten«, Christian merkte, daß er zu schnell fuhr, aber er konnte nicht anhalten, erreichte plötzlich Kupplung und Bremse nicht mehr, die Uniformhose hatte sich verklemmt, ebenso sein Oberkörper zwischen Lukenrand und Fahrersitz, »anhalten!« brüllte Pfannkuchen, tauchte, hektisch abwechselnd, ins scharfe

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