Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
der Allee in Richtung Engelsweg.
    »Schau mal«: Menos Blick folgte Londoners zur Kohleninsel, die wie ein Wrack, gefleckt von gelben Argusaugen, im Schneezwielicht lag. »Das ist bei den Vernehmern; die haben selbst am Heiligabend zu tun.«
    Sie liefen den Weg, zu dem die Straße geworden war, vor, bis ein Scheinwerfer aufgeblendet wurde und jemand »Parole?« schrie.»Hasenbraten!« Der Scheinwerfer blendete ab, Londoner gab Meno ein Zeichen zu folgen. Sie gingen langsam bis zur Absperrung vor, die aus einer Betonmauer mit auswärts geknicktem Stacheldraht-Aufsatz bestand; alle fünfzig Meter gab es einen Wachtturm. Vom nächstgelegenen rollte im Lichtstab einer Taschenlampe ein Seil herab; Londoner band das Netz daran, ruckte kurz, das Seil wurde hinaufgezogen. Meno trat dicht an die Mauer. Sie fühlte sich, wo er den Stein erreichen konnte, schmierig und warm an; kein Schnee lag hier, die Brombeerranken, die Beton und Stacheldraht überwucherten, am Wachtturm hochgeklettert waren und begonnen hatten, ihn einzuspinnen, Baumkronen zu ergreifen, schimmerten wie geöltes Metall.
    »Machen wir immer, mein Junge. Zu Weihnachten wird einem Posten auf dem Wachtturm etwas zugeschmuggelt«, sagte Londoner händereibend und mit Verschwörerzwinkern. Sie liefen zurück. Der alte Gelehrte berichtete stolz seine Freibeutertat, von Irmtraud mit nachsichtiger Liebe an Schlaglöchern vorbeigesteuert.

    … aber die Uhren schlugen, Schnee träufelte, kräuselte, flatterte auf Dresden, wurde fester, wurde weicher, dann grau wie Kapokflocken, an den Schnittgerinnen bildete sich Harsch, schwoll, von Asche entzündet, wuchs zu bräunlichen Korallenstöcken. Meno hörte, zwischen den Jahren, wieder das Geräusch der Teppichklopfer, sah die im jungfräulichen Schnee der Gärten ausgerollten »Perser« aus Vietnam und Taschkent, die Brücken aus Laos und der VR China, sah Familienväter und ihre Söhne spezifische, übers Jahr aufgestaute Wut mit Teppichklopfern aus Korbmacher Zückels Werkstatt (hinter dem kleinen Rathauspark mit verwitterter Hygieia, Sparkasse und Waldcafé, in dem es sommers Eis und winters heiße Würstchen und Grog gab und die »Lesehalle« zum Studium von Zeitungen einlud) ausdreschen, ausprügeln, ausknallen, niederhauen, niederplauzen, niederschlegeln; sie paukten, sie hieben mit den eleganten rokokoschleifigen, angenehm in der Hand liegenden und beim Wippschlag knirschenden Schmutz-, Flusen- und Teppichlausgarauswaffen, die Korbmacher Zückel nachdenklich »im Einsatz« beobachtete, wenn er durch das Viertel ging … aber dieUhren schlugen, drinnen, in den mühsam beheizten Stuben, schlugen bei Ticketack-Simmchen und Uhren-Pieper an der Turmstraße; in Malthakus’ Briefmarkenladen auf der Theke bei den Alben mit Ansichtskarten; bei Schallplatten-Trüpel; im Postamt auf dem Tisch von Postmeister Gutzsch; beim Konditor Binneberg; im »Saftladen« der Frau Zschunke; und in der Drogerie: drinnen –
    draußen aber, draußen erhob sich der Wind erneut, und auf dem Land tanzten die Schneestürme.

55.
Unterwasserfahrt
    Die Waffenbrüderschaft wird Ihnen unvergeßliche Erlebnisse schaffen
    vom sinn des soldatseins

    Pfiffe wie dieser erstachen den Schlaf.
    »Vierte Komp’nie: Gefechtsalarm!«
    Costas Leuchtzifferuhr sprang auf 3.00 Uhr.
    »Schlückchen, du miese Ratte, aus dem Fenster sollst du stürzen«,
    »Wie ich es hasse. Wie ich es hasse!«,
    »Ihr Grabficker, Hosenschlitze, Knallrinder«,
    »Ihr Bunsenbrenner, Suppenhirne, Erdferkel«,
    »Pechwichser, Lotterbuben, Feuerwanzen, Arschvögel!«,
    »Zieh ’n Läusekamm, Kam’rad, und gib mich alle neune!«,
    knurrten im verbissenen Anziehen (Unterhosen, Feldkombi, Schutzpäckchen, Gasmaske, Koppel, Panzerhaube) die Kommandanten in der Dämmerkälte ihrer Stube –

    »Liebe Mam: Wie kommst Du auf die Idee, ich könnte mir was antun? Weil meine lieben Stubenkameraden unablässig das Radio laufenlassen? Costa ist im Grund ein armer Kerl, die Mutter ist an Krebs gestorben mit 42, sie kam aus den »schlafenden Dörfern«, der Vater war bei der Wismut, ist mit 45 Jahren invalidisiert worden – Knochenmetastasen. Der große Irrgangflucht wie ein Droschkenkutscher – das sind wir ja hier eigentlich auch –, reizt die Vorgesetzten durch konsequente Dativverweigerung und ist ein ausgemachtes Schlitzohr. Neulich hat er literweise »Stoff« eingeschmuggelt, sein Vater, der im Kühlschrankbau arbeitet, hat die Reisetasche mit einem zweiten Boden versehen und mit

Weitere Kostenlose Bücher