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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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seiner Mitbewohner in der Internatsstube in Waldbrunn. – Er nicht, aber mein Onkel hat. Teilt sich die untere Wohnung mit einem Ingenieur und seiner Familie, mein Onkel hat ein größeres Zimmer und zwei kleinere. Es ist eine alte Villa, um die Jahrhundertwende erbaut von einem Seifenfabrikanten; damals war das ganze Haus eine einzige Wohnung, ganz oben gab es einige Dienstmädchenkammern; er konnte ja nicht ahnen, daß er mal enteignet werden würde. Sonst hätte er vielleicht vorgesorgt für die Bedürfnisse der Kommunalen Wohnungsverwaltung. – Nanu, einkleiner Spötter, unser Dresdner. Das hatte Jens gesagt, der in der 11/2, Christians Klasse, in der Fensterreihe ganz vorn saß, Sohn des Altenberger Praktischen Arztes Ansorge, etwas kleiner als Christian, die Haare zu einer leicht verwilderten Frisur gefönt, und hatte dabei verschwörerisch gegrinst und sich genießerisch an der mächtigen Schnabelnase gezupft. Das sollte heißen: Mach mir nichts vor. Alles klar. Manchmal beobachtete ihn Jens im Unterricht; sie saßen auf gleicher Höhe, Christian aber allein in der Türreihen-Bank, er spürte den Blick aus Jens’ blauen Augen, der forschend und herausfordernd offen über sein Gesicht glitt, über die Kleidung, die er trug, über die vom Vater geerbten Schweizer Bergschuhe.
    Christian war schon an der Treppe, er wollte durch die Tapetentür in den Wintergarten gehen, um nicht bei den Langes klopfen zu müssen; aber Libussa kam gerade aus der Küche, wo sie Semmeln aufgebacken hatte, der ganze Flur duftete danach. »Krischan, komm nur gleich durch, und hilf mir mal die Sachen rübertragen, weißt du, wo alles steht, das Salz rechts im Hängeschrank.« Libussa nickte ihm zu, den Semmelkorb in den Händen, das Haar zu einem Knoten gebunden. »Es ist offen, aber mach zu hinter dir, sonst geht die Wärme raus.«
    Christian nahm das Tee-Tablett. In Langes Wohnung roch es nach Vanilletabak, das Knasterarom schien tief in die vergilbte Blumentapete des Flurs und die verschossenen Vorhänge gedrungen zu sein, die vor den Türen zusätzliche Abdichtung gaben. Christian neigte den Kopf, als er durch den Holzkugelvorhang trat, der einen kleinen Vorflur abtrennte: Hier gab es ein Schuhregal, Schlüsselhaken, ein Hutgestell, auf dem mehrere von Libussas großen Hutschachteln standen. Der Schiffsarzt trat eben aus der Wohnzimmertür, den Aschkasten in der Hand, blinzelte hinter seiner Hornbrille, als er Christian sah; aber nicht aus Überraschung, ihn in seiner Wohnung zu sehen, denn er stieß mit seiner tabakrauchigen Stimme sofort hervor: »Hat’s geklappt, hat’s geklappt, ist dein Vater zufrieden?« Er sagte: dein Vadder; das »r« ließ er im Gaumen verschwinden: Lange stammte aus Rostock. »Sehr sogar.« Christian sagte guten Morgen, etwas verlegen, denn Lange stand in einem seltsamen Aufzug vor ihm: Über gestreiften Pyjamahosen trug er ein Wollsakko, ausdessen Brusttasche eine Zigarre lugte. – »Na denn man tau, min Jung, und schöne Grüße.« Lange suchte murmelnd nach einem Schlüssel am Bord, das Ziegenbärtchen an Kinn und Oberlippe, das im Gegensatz zum stark mit Grau durchmischten, immer etwas wirrsträhnigen Haupthaar sein Dunkelblond bewahrt hatte, hüpfte dabei auf und ab.
    Die Teetassen dampften, waren auch schwer, der Daumenballen berührte die heiße Kanne; trotzdem ging Christian nicht sofort in den Wintergarten, sondern warf gierige Blicke auf die Bilder an den Wänden, Fotografien meist von Schiffen, auf denen der Schiffsarzt gefahren war: das stolz und hoch getakelte Vollschiff Oldenburg – »war ja man ’n gutes Schipp«, pflegte Lange, wenn Christian sich bei Besuchen erkundigte, zu knarren, mit scharf zusammengekniffenen Augen, das Kinn reckend, Rauchpüffe aus der fragezeichenförmig nach unten hängenden Pfeife ausstoßend; Passagierschiffe der Hamburg-Amerika-Linie; dann, im Krieg, die Zerstörer, dräuende graue Eisenkästen. Häfen, die Torresstraße, die felsige Küste Patagoniens, aufgenommen von einem Schiff der Salpeterlinie der Reederei Laeisz; eine U-Boot-Besatzung im II. Weltkrieg, das Boot vor einem Schlachtschiff mit winkenden Matrosen aufgetaucht, die Luken waren geöffnet, die Besatzung an Deck angetreten; über den bärtigen Gesichtern flatterten Wimpel mit den Zahlen versenkter Bruttoregistertonnen. Der Kapitän hielt die Hand nachlässig, ein wenig skeptisch, wie es Christian schien, zum Gruß an der weißen Tellermütze mit dem schiefhängenden Wehrmachtsadler. Scapa

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