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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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ERSTES KAPITEL
     
    Wir saßen in der Kathedrale von Notre-Dame und warteten auf den Pfarrer. Buntes Sonnenlicht fiel durch die Fensterrose auf den offenen Sarg, der blumengeschmückt vor dem Hauptaltar auf einem roten Teppich stand. Im Chorumgang kniete ein Kapuzinermönch vor der Pietà, im linken Seitenschiff stand ein Maurer auf einem Gerüst und machte mit seiner Kelle schabende Geräusche, die im achthundertjährigen Gemäuer widerhallten. Ansonsten herrschte Ruhe. Es war neun Uhr morgens, die Touristen waren noch in ihren Hotels beim Frühstück.
    Unsere Trauergemeinde war klein, der Verstorbene hatte lange gelebt; die meisten, die ihn gekannt hatten, waren vor ihm gestorben. Auf der vordersten Bank saßen in der Mitte seine vier Söhne, die Tochter und die Schwiegertöchter, daneben die zwölf Enkel, von denen sechs noch ledig, vier verheiratet und zwei geschieden waren; ganz außen die vier der insgesamt dreiundzwanzig Urenkel, die an jenem 16. April 1986 schon geboren waren. Hinter uns erstreckten sich im Dämmerlicht zum Ausgang hin achtundfünfzig leere Bankreihen – ein Meer von leeren Bänken, in dem wohl Platz genug gewesen wäre für alle unsere Ahnen bis zurück ins zwölfte Jahrhundert.
    Wir waren ein lächerlich kleines Häuflein, die Kirche war viel zu groß; dass wir hier saßen, war ein letzter Scherz meines Großvaters, der Polizeichemiker am Quai des Orfèvres und ein großer Pfaffenverächter gewesen war. Falls er jemals sterben sollte, hatte er in den letzten Jahren oft verkündet, wünsche er sich eine Totenmesse in Notre-Dame. Wenn man dann zu bedenken gab, dass ihm als Ungläubigem die Wahl des Gotteshauses doch gleichgültig sein müsste und für unsere kleine Familie die Quartierkirche gleich um die Ecke angemessener wäre, entgegnete er: »Die Eglise Saint-Nicolas du Chardonnet? Aber nein, Kinder, besorgt mir Notre-Dame. Das ist ein paar hundert Meter weiter und wird etwas kosten, aber ihr schafft das. Übrigens hätte ich gern eine lateinische Messe, keine französische. Nach alter Liturgie, bitte, mit viel Weihrauch, langen Rezitativen und gregorianischem Choral.« Und dann schmunzelte er unter seinem Schnurrbart bei der Vorstellung, dass seine Nachkommen sich auf den harten Bänken zweieinhalb Stunden lang die Knie wundscheuern würden. So gut gefiel ihm sein Scherz, dass er ihn ins Repertoire seiner festen Redewendungen aufnahm. »Falls ich bis dahin nicht einen Abstecher nach Notre-Dame mache«, sagte er etwa, wenn er sich beim Friseur anmeldete, oder: »Frohe Ostern und auf Wiedersehen in Notre-Dame!« Mit der Zeit wurde der Scherz zur Prophezeiung, und als meines Großvaters Stunde tatsächlich geschlagen hatte, war uns allen klar gewesen, was zu tun war.
    So lag er nun also mit wächserner Nase und verwundert hochgezogenen Brauen exakt an der Stelle, an der Napoleon Bonaparte sich zum Kaiser der Franzosen gekrönt hatte, und wir saßen auf jenen Bänken, auf denen hundertzweiundachtzig Jahre vor uns dessen Brüder, Schwestern und Generäle gesessen hatten. Die Zeit verging, der Pfarrer ließ auf sich warten. Die Sonnenstrahlen fielen schon nicht mehr auf den Sarg, sondern rechts daneben auf die schwarzweißen Steinplatten. Aus der Dunkelheit tauchte der Kirchendiener auf, steckte ein paar Kerzen an und kehrte in die Dunkelheit zurück. Die Kinder rutschten auf den Bänken umher, die Männer rieben sich den Nacken, die Frauen hielten den Rücken gerade. Mein Cousin Nicolas nahm seine Marionetten aus der Manteltasche und machte eine Vorstellung für die Kinder, die im Wesentlichen darin bestand, dass der stoppelbärtige Räuber mit seinem Knüppel auf Guignols Zipfelmütze eindrosch.
    Da ging weit hinter uns neben dem Eingangsportal mit leisem Kreischen eine kleine Seitentür auf. Wir drehten uns um. Durch den breiter werdenden Spalt strömte das warme Licht des Frühlingsmorgens und der Lärm der Rue de la Cité ins Halbdunkel. Eine kleine graue Gestalt mit einem leuchtend roten Foulard schlüpfte ins Kirchenschiff.
    »Wer ist das?«
    »Gehört die Frau zu uns?«
    »Still, man kann euch hören.«
    »Gehört die zur Familie?«
    »Oder ist das vielleicht …?«
    »Glaubst du?«
    »Ach woher.«
    »Bist du ihr nicht einmal im Treppenhaus …«
    »Ja, aber da war’s ziemlich dunkel.«
    »Hört auf zu gaffen.«
    »Wo nur der Pfarrer bleibt?«
    »Kennt die jemand?«
    »Ist es …«
    »… vielleicht …«
    »Meinst du?«
    »Würdet ihr jetzt bitte alle still sein?«
    Es war mir auf

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