Der Turm
daß Christian einen Witz über Breshnew macht, noch dazu jetzt, wo er kaum einen Monat tot ist, und die sowieso nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht, und auf alles überempfindlich reagieren … Das weißt du doch! Und Christian weiß es auch! Aber manchmal habe ich wirklich das Gefühl, gegen Wände zu predigen. Und dabei weißt du noch nicht einmal, ob in diesem Restaurant nicht überall Wanzen stecken …«
»Worauf du dich verlassen kannst.«
»Und warum verhältst du dich dann nicht entsprechend? Ich habe dich doch noch heute nachmittag beiseite genommen, und Christian gestern! Aber ich kann reden wie ein Buch, es nützt nichts! Der Junge ist alt genug, sagst du, aber wenn du und deine Freunde ihn so ermuntert … Meine Güte, er ist doch erst siebzehn, er muß sich ja geradezu herausgefordert fühlen, wenn er euch zuhört … Ich glaube nämlich, daß er doch noch nicht alt genug ist, um solche Situationen voll einschätzen zu können.«»Stimmt schon, Anne. Ich hätte vorsichtiger sein sollen. Ach … Immer dieses Geducke und Gebiege …«
»Es wird nicht anders vom Schimpfen.«
»Dieser Müller … Ich hab’ deutlich gemerkt, daß er innerlich gekocht hat und nur deshalb nicht lauter geworden ist, weil er Gast auf unserer Feier war. Manfred muß auch aufpassen. Ich weiß zwar, daß sein Chef und Müller sich nicht ausstehen können, aber … Genosse ist Genosse, und wenn es Spitze auf Knopf steht, hackt eine Krähe der anderen kein Auge aus. Ach, Anne. Da lebt man nun schon dreiunddreißig Jahre in diesem Staat, und hat immer noch nicht gelernt, wann es Zeit ist, den Mund zu halten.«
Anne sah ihn an, drückte seinen Arm.
»Genau dafür liebe ich dich ja. Na, komm. Jetzt können wir’s auch nicht mehr ändern.«
Richard spürte, daß sie bedrückt war, und wollte das Thema wechseln. »Du, wie machen wir’s eigentlich mit dem Schlafen? Ich hab’ mir gedacht, Alice und Sandor bleiben im Kleinen Zimmer –«
»Das haben wir schon längst geklärt, mein lieber Mann.« Sie schüttelte belustigt den Kopf. »Wie zeitig euch Männern solche Dinge immer einfallen, da kann man nur staunen. Wenn man euch das überlassen würde, wäre das Chaos bald da. Alice und Sandor müssen mit Kurt im Kinderzimmer schlafen, und morgen ziehen sie dann wieder ins Kleine Zimmer um. Im Wohnzimmer Regine und Hansi, und im Kleinen Zimmer Emmy. Deine Mutter muß allein schlafen, außerdem kannst du ihr nicht die harten Sofas im Wohnzimmer zumuten. Regine und dem Jungen macht das nichts aus. Und sie haben dort das Telefon, falls der Anruf sehr spät kommt. He, Robert, Ezzo, hört mal auf damit, fast hättet ihr uns getroffen! Ich möchte nicht, daß etwas kaputtgeht, habt ihr gehört?«
»Jaja!« riefen die beiden fröhlich und fegten sich gegenseitig Schnee von den Mauerkronen in die Gesichter.
Christian dachte über Regine nach, mit der seine Eltern befreundet waren. Jürgen Neubert, Regines Mann, war vor zweieinhalb Jahren nach München geflüchtet. Seitdem konnten sie einander nur in Prag sehen, einmal im Jahr, nach großen Schwierigkeiten,Jürgen immer in Angst, verhaftet zu werden. Regine war nach ihrem Ausreiseantrag das Telefon gesperrt worden. Um mit Jürgen sprechen zu können, mußte sie Annes und Richards Anschluß benutzen. Die Freigabe des Gesprächs konnte morgens um vier Uhr geschehen; man wußte nie vorher, wann, deshalb hatte Anne für Regine und ihren Sohn vorsorglich die Betten bereitet.
»So«, murmelte Richard vor dem Haus Karavelle und zog den Schlüssel aus der Manteltasche. Im Wohnzimmer, dessen mit Schwibbögen geschmückte Fenster von der Straße zu sehen waren, brannte Licht. Das war das Zeichen, daß Regine noch immer auf den Anruf ihres Mannes wartete.
6.
»Frieh-stick«
Morgengrau kauerte im Fenster, als Christian erwachte. Er lauschte: Im Haus war es still; aber er wußte, daß Meno es liebte, früh aufzustehen und die Laudes, wie er mit den Mönchen die Stunde zwischen fünf und sechs Uhr nannte, am Werk oder meditierend, in der allmählich fortgelöschten Dunkelheit der vom Abend noch leidlich warmen Stube, zu verbringen. Im Sommer sah Meno auf dem kleinen Balkon der Rückkehr des Gartens zu, wie die Äste und Blumen von Frühröte eingefaßt wurden, Langes Birnbäume noch dunkel, die Früchte noch nicht aus dem Tagdämmer gelöst; sah zu und mochte lauschen, wie er, Christian, jetzt lauschte. Menos russischer »заря«-Wecker tickte rostig. Die Leuchtstreifen unter den Ziffern und auf
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