Der Turm
Kirschmarmelade, Pflaumenmus und Waldhonig, und neben der mit einem Tuch zugedeckten Semmelschale stand ein Teller mit einer Spezialität Libussas: zu einer Art von festem Teig getrocknete und in schmale Streifen geschnittene Aprikosen, die Christian, der beständig zu diesem Teller hinschielte und dabei oft auf Stahls Grinsen traf, der viel näher an diesen Leckerbissen saß, für wesentlich wachstums- und entwicklungsfördernder hielt als heiße Kuhmilch. Libussa und ihr Mann falteten die Hände zum Gebet: »Drum, lieber Herr, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast.« Sender Dresden übertrug ein Gedicht eines verdienstvollen Kämpfers und hohen Funktionärs des Geistestätigen-Verbands. Meno hörte mit schmerzverzerrtem Gesicht zu, während die anderen, auch Christian, ungerührtzugriffen. Es ging um Ideale, lichte Zukunft, Lenin und Marx, um Heldentaten auf der Baustelle des Morgen, um die Gestaltung des Kommunismus und »Um dich, Genosse, der du friedlich frühstückst, / ledig der Sorgen derer / auf Wacht!« Stahl hielt inne im Semmelaufsägen. »Sag mal, Meno, und so was mußt du jeden Tag lesen? Du friedlich frühstückender …«
»Fontane?« schlug der Schiffsarzt vor und spitzte die Lippen auf der Suche nach seinen »Heilpunkt«-Verdauungspastillen. Meno hatte noch immer den schmerzverzerrten Gesichtsausdruck. Der Ingenieur legte das Messer beiseite, winkelte den Arm vor der Brust und stützte das Kinn auf die Hand, um mit vibrierenden Nasenflügeln, hin und wieder aufglucksend, zu lauschen. Christian erkannte die günstige Gelegenheit und gabelte zwei Aprikosenschnitten.
»Das ist das, was die in Ostrom gerne hören. Wenn es nach denen ginge, sollten die Schriftsteller nur solches Zeug schreiben.«
»Müssen die das senden? Soundsoviele Ferse friedlich frühstückender Funktionäre pro Monat? Könnten doch mal«, Stahl blickte sich suchend um, »was ganz Alltägliches bedichten. Müssen wir auch tun! Fir Fertigungsingenieure fertigen from Faeces Feinkost. Nicht immer nur der Feltraum. Feiere familiärer, Genosse!«
Meno lachte, griff nach seiner Semmel, betrachtete sie eine Weile, Spottlust in den Augen. Er stand auf, streckte die Semmel mit pathetischer Geste von sich:
»Dich, o vollblütige Dresdener Semmel, will ich besingen,
wie du so prächtig und pausbäckig forderst die Freßsucht,
doch kommst du, sag an, aus Elysiums Konsum,
hat vom volkseigenen Backblech geschabt dich der Bäcker Nopper,
stammst du aus Wachendorfs gemütvoll bemehltem Geschäfte,
aus Walthers oder Bäcker Georges frühmorgendlich mürrischen Körben?
Doch wie, o sprich, du teigiges Dresdner Ereignis,
soll dich nennen des Sängers gierig-gefräßiger Mund,
der mit lechzenden Lippen lüsternes Lied dir verfertigt?
Stolz und elastisch wie … Mädchenbrüste? lockst du zum Kosten,
aber ist es ein Kosten nur, was du gewähren
mir sollst, wo doch der Sänger in dich
wie ein hungriger Hund seine Zähne will graben,
um mit tierischem Schlunde und heulend fette Fetzen
aus deinen fantastischen Flanken zu reißen – O! Wie!
Wie nur nenne ich dich, du gebackene Bratsche,
Gummigaumen, Dampfdattel, Dresdner Dudelsack,
kunstgeküßte Knuddelkuppel, wie nur, stumme Dulderin
höllischer Hitze, du Meisterstück des sächsischen Genius’,
o Semmel?«
– Das Lachen brach jäh ab, als von der Tür, die zur Wendeltreppe und in den unteren Hausflur führte, Applaus geklatscht wurde. Alle wandten die Köpfe. Die beiden jungen Männer, die ihre Hände jetzt senkten und langsam in die Hosentaschen schoben, wirkten keineswegs unsicher. Die Röte auf ihren Gesichtern schien eher aus fröhlicher Anteilnahme als aus Verlegenheit zu kommen, und niemals hätte Christian, der den Blick zwischen den Zwillingen und der Tischgesellschaft hin- und herwechselte, die Unbefangenheit aufgebracht, mit der sie, kichernd und die Wohlgeratenheit der Pflanzen links und rechts lobend, näherschlenderten. Es waren eineiige Zwillinge, und zur verwirrenden Ähnlichkeit ihres Äußeren kam hinzu, daß sie auch noch gleich gekleidet waren in weiße Feinstrick-Rollkragenpullover mit Zopfmuster, schon etwas abgetragene Jeans und Turnschuhe. »Dies ist ein Privatraum, Herr … Kaminski?« Stahl hatte sich als erster von seiner Überraschung erholt und wies mit dem Messer, an dessen Spitze noch ein Butterschnitz klebte, über den Wintergarten.
»Ganz recht, Kaminski, das ist unser Name. Und zur Unterscheidung bin ich René, und das ist
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