Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
Tietze ihm die Müllersche Wohnung öffnete, vielmehr ihm die Tür aufschob gegen zertrümmertes Glas, das unter Schritten knirschte und knackte,
    Richard sah Niklas’ Stethoskop durch die Lücken zwischen einzelnen noch im Rahmen der Eingangstür steckenden Splittern, dann sein Gesicht, gezackt von Fragmenten des Paradiesvogels und in Eiszapfenscherben herabhängenden Palmwedeln, sah, beobachtet von schweigenden Nachbarn, Niklas’ Hände, die Fliege, den Sonntagsanzug, den er trug, wenn er Dänes »Freundeskreis Musik« besuchte,
    »Ja«, sagte Niklas, »sie hat uns geholt, wir hatten Mozart gehört und … sie hat es ja nicht weit, und wir hatten uns noch verplaudert«,
    »Was ist passiert?« Richard sah die Trümmer, die zerschlagenen Spiegel, den in Stücken liegenden Kleiderständer, die vom Licht einzelner übriggebliebener Glühbirnen tausendfach aufschießenden Kristallscherben,
    »Er hat einen Brief bekommen mit der Aufforderung, alles zu deklarieren«, sagte Niklas, winkte Sanitäter und Fahrer, die sich mit der Trage den Weg durch die rasch gewachsene Menge Neugieriger gebahnt hatten, nach hinten,
    Rechtsanwalt Joffe kam aus einem Nebenzimmer, suchte kopfschüttelnd und zögernd, er trug karierte Hauspantoffeln, Lücken zwischen den Scherbenmassen,
    »Kriminalpolizei und Gerichtsmedizin sind verständigt, hiermuß alles abgesperrt werden, mehr konnte ich leider nicht tun, Herr Hoffmann, ich bin ja kein Fachmann für so etwas«,
    »Neununddreißig Ampullen Alt-Insulin«, sagte Edeltraut Müller, »Doktor Tietze hat ihm sofort Glucose i.v. gegeben, aber ich fürchte, wir sind zu spät gekommen«, und klopfte an eine Spritze, pumpte eine Blutdruckmanschette auf, die um Müllers rechten Oberarm lag, suchte mit dem Stethoskop in der Armbeuge und ließ die Quecksilbersäule über die Rändelschraube langsam ab, während Richard mit einer Stablampe die Pupillenreaktion prüfte: beidseits lichtstarr; Atmung, Puls, Kreislauf prüfte und die beiden Nierenschalen musterte, in der linken die erbrochenen Ampullen und zwei Ampullensägemesser, eine Kompresse; in der rechten die Glasspritze mit noch aufgesteckter Injektionskanüle,
    »Er wußte, daß ich zum Freundeskreis Musik gehe, Doktor Hoffmann, und daß ich mehrere Stunden weg sein würde, die Nachbarn über uns waren auch nicht da, und im Stockwerk darüber dürfte der Lärm schon nicht mehr so gut zu hören gewesen sein«, sagte sie, und pumpte die Blutdruckmanschette wieder auf,
    »das Schreiben, der Brief«, sagte sie,

    »Sehr geehrter Herr Hoffmann: Die Ampullen Alt-Insulin stammen aus dem Bestand der Chirurgischen Kliniken, klären Sie das doch bitte mit der Verwaltung und mit Oberschwester Henrike.
    Liebe Edeltraut: Ich dachte mir, sie sollten die Wohnung nicht haben. Bezüglich der Beerdigung bitte keine unnötigen Umstände. Mit Herrn Pliehwe, VEB Dienstleistungskombinat, Bestattungsinstitut ›Erdenfahrt‹, habe ich die notwendigen Regelungen getroffen. In betreff Deiner Witwenrente wende Dich bitte ans Rektorat; Herr Scheffler wird Dir behilflich sein. Ich habe einundvierzig Jahre gute Arbeit geleistet. Als Kommunist und als Arzt. Das ist nicht der Sozialismus, von dem wir träumten.«

    drehte die Stethoskopmembran, nahm die Ohroliven mit einer Hand ab, so daß sie zusammenprallten, pumpte die Manschette nach, ließ den Quecksilberstab im Druckmesser schrumpfen,hatte aber vergessen, sich die Ohroliven wieder einzusetzen, pumpte wieder, der Hakenverschluß der Manschette hatte sich gelockert, so daß sie sich asymmetrisch blähte,
    »Und«, sagte Niklas, die Augen auf den kaputten Vitrinen, den zerschmetterten Glasblumen, dem Hammer, mit dem Müller die Kristalltropfenbehänge der Lüster auf dem Fußboden zerkleinert hatte,
    »Neununddreißig Ampullen«, sagte Edeltraut Müller, »er hat sie in eine Urologenspritze aufgezogen, sehen Sie nur«,
    gewiß der himbeerrote Wulst seiner Lippen, gewiß konzentriert die Augen, als er die Ampullen ansägte, ihnen, die Kompresse zwischen Glas und Finger, die Hälse brach, gewiß die Uhubrauen zusammengezogen, die lüpfende Bewegung des Fingers, kühles, professionelles Arbeiten, Alt-Insulin wirkte schnell,
    »Sie haben gewartet, bis er in Rente geht«, sagte Edeltraut Müller,
    Polizisten stakten über Glasreste, der diensthabende Gerichtsmediziner nickte Richard zu, der Edeltraut Müller auffing, bevor sie in die Scherben neben der Leiche ihres Mannes fiel.

60.
Reise nach Samarkand
    Sollte ich jemals /

Weitere Kostenlose Bücher