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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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werfe dir das nicht vor, bestimmt nicht. Es ist nur … die Erziehung. Ich bin im Glauben an das Land erzogen worden, an die Ideale, das System. Na, erzogen«, Reina lachte nervös, »meinen Eltern war so vieles egal. Abgesehen von: Solange du deine Beine unter unsern Tisch steckst –«
    »Kann Verena weiterstudieren?«
    »Sie ist exmatrikuliert. Vorher: eine von den Besten, man hat sie hofiert – dann der Antrag, und man hat sie fallengelassen wie eine heiße Kartoffel.«
    »This tender butterfly with dark brown eyes.«
    »Du warst in sie verliebt.«
    »Glaub’ nicht.«
    »Sie war’s nicht wert!« verlangte Reina in einem Ausbruch von plötzlichem Haß.
    »Glaub’ doch. – Wie geht’s ihrer Schwester?«
    »Sie und die Mutter haben noch Arbeit. Der Vater ist gleich nach dem Antrag entlassen worden. Bis auf mich haben sich alle Freunde abgewandt. Siegbert hatte ja schon Probleme, und einer von denen hat ihm gesagt, wenn er die Beziehung zum Fräulein Winkler nicht abbricht, können sie für nichts mehr garantieren.«
    »Will er immer noch zur See?«
    »Ja. Damit haben sie ihn in der Hand. Er studiert jetzt Pädagogik, Sport/Geographie.«
    »Siegbert ein Lehrer! Und seine vier Jahre Verpflichtung?«
    »Hat er widerrufen. – Alle ihre Freunde haben sich abgewandt. Als wäre sie aussätzig! Und ich? Was soll ich machen? Sie sagen mir offen, daß ich die Beziehungen abbrechen soll.«
    »Dann tu’s doch. Sie ist doch eh irgendwann draußen. Und was hat’s dir dann genutzt, wenn Verena weg ist und du ohne Studienplatz dastehst.«
    »So denkst du wirklich? Du?«
    »Ich weiß nicht, was ich denke. Ich weiß nicht, was wird.«
    »Du kannst nicht wirklich so denken. Siegbert, ja. Aber du nicht. Und du weißt das. Nur aus Widerspruchsgeist gibst du dich so zynisch. Aber du bist nicht so.«
    »Wieso nicht? Hat doch einiges für sich, was ich sage. Übrigensweiß ich selbst nicht, wie ich bin. Aber du willst es wissen. Wir haben uns lange nicht gesehen, und es war eine Zeit –«
    »Was meinst du damit – du weißt selbst nicht?«
    »Es gibt Situationen, Entscheidungen, die man fällen muß … Aber es kam anders, und man ist überrascht. Vielleicht war man feiger, als man glaubte zu sein. Vielleicht dachte man ein ehrenwerter Mensch zu sein, der weiß, was sich gehört, und daß er gewisse Dinge niemals tun würde – und dann liest er doch heimlich in fremden Tagebüchern. – Wie war’s eigentlich bei meinen Eltern? Warum hast du sie besucht?«
    »Ich habe dieses praktische Jahr gemacht, in einer Klinik. Eine kleine Klinik. Dort habe ich Dinge gesehen … Wir hatten keine Spritzen. Dann hatten wir sie doch: Patienten sind in den Westen gefahren und haben Spritzen, Verbandsmaterial von dort mitgebracht. Sie fahren in den Westen und kaufen sich ihre Insulinspritzen, die Kanülen von dort, damit wir sie ihnen hier geben können. Wir haben sozialistische Hilfe in einem Pflegeheim gemacht. Keine Schwestern da, die Alten lagen in ihren Windeln, die keiner gewechselt hatte. Einen Pfleger gab’s, der ging über die Stationen und sagte: Wer Westgeld hat, dem wisch’ ich die Scheiße ab. Sagte: Die alten Knacker kommen doch rüber, ich nicht. Es gibt Betten und ganze Krankenstationen nur gegen Devisen. Dein Vater hat das bestätigt. Er hat’s mir erklärt: Das Gesundheitswesen schafft ja keine Devisen, hat aber Auflagen vom Staat, der Devisen dringend braucht, und da müssen sie eben das verkaufen, was da ist –«
    »Ja, davon haben wir in der Schule nichts gehört.«
    »Swetlana ist in die Sowjetunion gegangen. Hier gäb’s kein Feuer mehr, nur noch Asche. Sie konnte es nicht mehr ertragen, die Müdigkeit überall, die Bürokratie.«
    »Und das Feuer sucht sie nun bei den Freunden. Könnte sie Glück haben, welches zu finden. In Tschernobyl hat’s ja kürzlich ein schönes gegeben.«
    »Du bist sehr zynisch geworden. So kenne ich dich gar nicht. Ich weiß, Swetlana … war speziell. Mir hat sie eher leid getan.«
    »Ich glaube, sie hätte nichts dabei gefunden, Jens oder Falk anzuzeigen, wenn die so unvorsichtig gewesen wären, ihre wahre Meinung vor ihr zu sagen.«
    »Kennst du Swetlana?«
    »Sag’ bloß, das hätte sie nicht gemacht.«
    »Sie hat dich geliebt.«
    Christian schwieg.
    »Du hast oft in der Schulbibliothek gelernt.« Reina lächelte. »Arrogant warst du wie ein Enterich. Und herablassend. Swetlana hat dir einen Liebesbrief auf die Staffeleitafel geschrieben, ich sollte ihn auf Rechtschreibfehler

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