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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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durchsehen. Ich fand den Brief irgendwie … unpassend. Für sie unpassend. So kniefällig und gleichzeitig lehrerinnenhaft … Kurz bevor du kamst, hat sie alles weggewischt.«
    »Und jetzt ist sie in der Sowjetunion und hofft auf weniger Bürokratie. Oh ja.«
    »Schnürchel hat ihr einen Studienplatz in Leningrad vermittelt, für Russischlehrer. Sie hat wohl auch jemanden kennengelernt. Ich habe trotz allem Achtung vor ihr, denn für sie ist das nicht nur … Redensart. Sozialismus. Und daß es allen Menschen gutgehen soll. Hast du dich nie gefragt, weshalb sie im Internat war – und ihre Familie im Nachbardorf? – Die Mutter Alkoholikerin, der Vater das gleiche – und hat geprügelt. Sie hatte sechs Geschwister, und für die war Swetlana die Mutter.«
    »Und, warum erzählst du mir das? Was soll ich mit dieser sentimentalen Geschichte? Was willst du mir beweisen? Daß ich ein Arschloch bin? Komisch, das wollte Verena auch schon. Daß ich zu schnell mit meinen Urteilen bin? Hat schon mein Onkel angedeutet. Willst du mich erziehen? – Alle wollen sie immer nur – erziehen!« schrie Christian. »Erzieht euch doch selber!« Ein Tobsuchtsanfall war ein Aufbrechen, die Sprengung einer Kruste, Hitzesprudel schossen durchs Blut, eine finstere Elektrizität schien von einem Generator bis in die Fingerspitzen geschwemmt zu werden, lud sie mit Kraft und Wahn, spitzte den Blick auf ein einziges, mit einem Messerstich oder Faustschlag oder Axthieb zu erledigendes Ziel – vor dem Kompaniechef hatte Christian die Panzeraxt gehoben. Er spürte, wie der Anfall kam, auch dies ein Hoffmannsches Erbe, Richard konnte zum Fürchten jähzornig werden, Christian hatte Großvater Arthur gesehen, wie der in rasender Unzurechnungsfähigkeit mit einem Fleischwolf die Wohnzimmerscheibe einschlug, tobend,brüllend, Emmy hatte er mit Wäscheklammern beworfen. Christian zerrte Reina in einen Hausflur, biß sie in die Hand, küßte die Bißstelle dann. Die Achselhöhle! dachte er, du wolltest ihre Achselhöhle zuerst küssen! Daraus war nun nichts geworden. Im Hausflur lag Schutt, Putzreste hatten helle Rieselkegel auf dem Boden gebildet. Er mußte lachen, als er Reina protestieren hörte. Wie weich sie war, ihre Arme, ihre Wangen – so weich. Vom Hinterhof, wo die Mülltonnen standen, fielen Sonnensplitter ein, kamen aber nur bis zu einem völlig verrosteten Fahrrad. Blindwütiges Begehren. Mit ihr ausgehen. Mit ihr reden. Reina weinte. Er bemerkte, daß er den Beutel mit den Alpenveilchen gegen sie preßte. Irgendwo oben im Haus schlug eine Tür. Er stieß Reina von sich, sie rutschte langsam die Wand hinab, blieb kauernd, mit weggewandtem Gesicht, weinte aber nicht mehr. Er sah vor sich, wie er sich im Spiegel nackt betrachtet hatte: die pustelübersäte, ekelerregende Haut, die sich nach Berührung sehnte und sie fürchtete. Er trat ein Putzhäufchen flach, wartete, unschlüssig, was nun geschehen würde. Er würde wieder Entschuldige, bitte, sagen müssen, und dann gehen, hatte aber keine Lust dazu.

59.
Die Kristallwohnung
    Als Richard Nachtdienst hatte, das Telefon klingelte und er sich mit einem Sanitäter und dem Fahrer auf den Weg machte, erinnerte er sich an die Wohnung, in der sein emeritierter Chef den Ärzten und einigen Schwestern – den altgedienten Frontpferden, wie Müller zu sagen pflegte – ein Abschiedsessen gegeben hatte; diese Wohnung, die ganz aus Kristall zu bestehen schien, schon die Eingangstür empfing mit Palmen und einem Paradiesvogel, die ins Mattglas geschliffen waren, Kleiderständer aus Glas, wasserklare Spiegel, Vitrinen mit Glasblumen von Blaschka & Blaschka zu Dresden, die zoologische und botanische Sammlungen von Harvard bis Wien mit ihren fragilen, mundgeblasenen Kunstwerken beliefert hatten, die Pusteblumen-Schwerelosigkeit von Eucalyptus globulus,
    das Telefon klingelte, die Schwester in der Notaufnahme reichte ihm den Hörer: »Frau Müller, für Sie, Herr Oberarzt«,
    oder Kugelalgen, weit ins Sichtbare vergrößert, strahlige, zerbrechliche Skizzen, Richard fühlte sich an die Mikroskopiekurse im Studium erinnert, »Eucalyptus globulus, Heimat Australien und Tasmanien«, hatte Müller, ein Glas Wasser mit Eisstücken schüttelnd, erläutert,
    »Ja? Hoffmann«,
    »Ja«, sagte Edeltraut Müller,
    und als Richard noch nach einer Formulierung suchte, die Was gibt’s, Was kann ich für Sie tun weniger jovial ausdrückte, sagte sie »Kommen Sie«,
    Müller hatte mit dem Siegelring die Lippen nach

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