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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Hände gegen den Schiffsarzt, der aufgestanden war. »Aber wenn Sie mir nicht glauben – gut, dann gehen Sie, schauen Sie nach in Ihren Unterlagen. Sie werden sehen, daß ich recht habe. Und das bedeutet: Da dieser Wintergarten uns allen gehört, die wir in diesem schönen Haus leben, also Ihnen, Herr Dr. Stahl, Ihrer Familie; Ihnen, Herr Rohde, den Langes, und eben auch uns, da wirnun hier wohnen – aus diesem Grund also sind irgendwelche Verbote, Hinweise auf Gewohnheitsrecht undsoweiter unangebracht. Ebenso wie die doch sehr mißverständlichen Begriffe, die Sie vorhin gebraucht haben und die wir nicht zu wiederholen bitten. Im Sinne guter Nachbarschaft.«

7.
Ostrom
    Schnee, Schnee fiel auf Dresden, auf die Mondleite, wo Meno in der Nacht, als er vom Spaziergang kam, die Schatten der Bewohner in den erhellten Fenstern sah, das besorgte Gesicht Teerwagens, Schwachstromphysiker am Barkhausenbau der Technischen Universität, der ihn vom Balkon aus grüßte; Schnee fiel auf das Viertel, blieb im starren Geäst der Bäume hängen und häufte sich zu zuckerwatteartigen Bändern; verwandelte die Rhododendren in weiße Glocken, stieg auf den Wegen, deckte über die Vogeltritte, Wild- und Katzenspuren in den Vorgärten neuen, glitzernden Damast, begrub die mühselig freigescharrten Autos in wenigen Stunden unter ziegeldicken Gespinsten, Riesenkokons, in denen unförmige Lebewesen ihre Metamorphose durchschliefen.
    Am Montagmorgen stand Meno zeitiger auf als sonst, dennoch hörte er den Ingenieur bereits in der Küche hantieren.
    »Morgen, Gerhart.«
    »Morgen. Baba ist wieder draußen. Hab’ ihm schon was gegeben.«
    »Kann ich ins Bad?«
    »Ist frei. Der Ofen braucht noch ein paar Minuten.«
    »Hat Sabine angerufen?« Das Tausendaugenhaus besaß ein Telefon, Lange hatte den Anschluß nach fünfzehnjähriger Wartezeit zugeteilt bekommen. Die Mieter nutzten ihn gemeinsam.
    »Halb sechs soll ihr Zug am Bahnhof Neustadt eintreffen. Neun Stunden Verspätung wegen der Schneeverwehungen. Ich will sie abholen, deshalb bin ich schon auf. Die Elf fährt ja immer noch nicht; aber ob ich’s bei dem Wetter mit dem Auto versuchen soll, was meinst du?«
    »Auf der Bautzner haben sie gestern Salz gestreut, die müßte einigermaßen frei geworden sein.«
    »Aber das Zeug ätzt so, macht mir die ganze Karosserie kaputt.« Stahl ging zum Kühlschrank, nahm Brot und Butter heraus, begann einige Schnitten zu schmieren. »Sylvia wird schön müde sein. Und hungrig. In der Mitropa gab’s ab Berlin nichts mehr zu essen.«
    »Grüß sie von mir, deine beiden.«
    Nach der Morgentoilette ging Meno in die Stube, um noch einmal die Materialien für den Alten vom Berge durchzusehen. Die Schellingbücher, die Christian ihm verblättert hatte, ohne ihn darauf anzusprechen, im Vertrauen vielleicht, daß er, Meno, gedankenversunken, in sich gekehrt und träumerisch, wie er wohl den meisten Menschen erscheinen mochte, nichts bemerken würde. O doch. Sein Vater hatte ihn zur genauen Beobachtung angehalten; oft war er mit ihm in der Sächsischen Schweiz wandern gegangen, und immer hatte sein Vater botanische oder zoologische Fundstücke eingehend betrachtet, hatte sich nicht mit dem oberflächlichen Blick zufriedengegeben, sondern jedes Lebewesen, gleich ob Pflanze oder Tier, alltäglichen Löwenzahn oder seltenen Frauenschuh, in seiner Eigenart zu charakterisieren und ihm nahezubringen versucht. Genaue Beobachtung, stille, hingegebene Treue an die großen und kleinen Erscheinungen der Natur; täglicher Trott und dennoch unermüdliches Forschen, Graben, Erstaunenkönnen. Meno dachte an seine akademischen Lehrer: Falkenhausen, cholerisch, besessen akribisch, der mit wehenden Kittelschößen durch das Jenaer Institut rannte, tagsüber mit blauer, weißgepunkteter Zauberkünstlerfliege; nachts, schlaflos, im Pyjama und Bademantel; Falkenhausen hatte ein Dienstzimmer im Keller des Instituts gehabt, in dem er zwischen Schlangen, weißen Mäusen und Spinnen hauste, in Erlenmeyerkolben Kaffee brühte, in Platintiegeln, die von Chemikalienresten bunt schillerten, Spiegeleier zum Abendbrot brutzelte und manchmal, gegen die lastende Stille all der ausgestopften und präparierten Tiere in den nächtlichen Institutsfluren, Knallfrösche zündete, die von Silvesterfeiern übriggeblieben waren; dachte an Otto Haube im Leipziger Institut, das zwei mächtige steinerne Bären vor dem Eingang und viele verwinkelte Stiegenund alchimistenküchenhafte Laboratorien hatte;

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