Der Turm
einzelne, zu einem weißen Gespenst geschossene Linde, an der der Bürgermeister und der Arzt und der Rabbi baumelten, reihum war es gegangen unter den Kameraden, der Hauptmann zischte Los, oder, lud durch und drückte die Mündung auf die Stirn des Soldaten. Und der Mensch neben ihm machte hampelnde Bewegungen und griff in die Luft und versuchte mit seinen Händen den Hauptmann zu erreichen und sackte in den Schnee neben sein Mädchen und fuhr sanft über ihren Ärmel und schüttelte ihren Kopf. Die Kameraden zerrten ihn auf und fesselten seine Hände auf den Rücken, zogen ihm ein Tuch übers Gesicht. Der Soldat nahm den Strick, die Kameraden hoben den Burschen auf den Schemel, zurrten die Schlinge eng, der Soldat stieg auf einen Schemel daneben, der Hauptmann wischte mit der Waffe durch die Luft, der Soldat strich dem Mann behutsam die Schneeflocken vom Kragen. Der Atem blähte das Tuch und zog es zusammen, und dann hörte er, daß der Mann zu blöken begann, abgerissen und schief wie ein Ziegenbock, häßlich, wie der Soldat in diesem Moment fand, und dabei näßte der Speicheldas Tuch. Das klingt so albern, ich will seine Fresse sehen, runter den Fetzen! lachte der Hauptmann. Aber da stieß der Soldat schon den Schemel weg
klick«,
» klick«, murmelte Eschschloraque,
»… herauf aus tiefem Schlaf der Zeit: die Flure, Dunkelstrom, und nicht nur nachts die Ratten, Neid, der seine gelben Nebel kriechen läßt, durch alle Ritzen dringt er, alle Türen kennt er, in den Träumen, nachts, am Tage, rollt Reiseländer aus, entzündet Wunderlampen als Gatte der Frau Kälterätin Gier und läßt die Flüsterknospen wachsen im Acker der Gedanken«
TAGEBUCH
Bei Ulrich. Richard und Anne da, Feier im kleinen Kreis. Ulrich sorgenvoll. Gealtert. Schwierigkeiten im Betrieb, Planungsbilanzschwierigkeiten. Erzählte von Sitzungen in Berlin, in der Plankommission. Da die Weltmarktpreise für Rohöl und infolgedessen auch für Industrieprodukte auf Erdölbasis seit ’86 stark gesunken seien, läge der Preis, den wir nach RGW-Abkommen an die SU für Öl zu zahlen hätten, weit über Weltmarktniveau. Das verteuere unsere Produkte – wir könnten sie nicht mehr mit den notwendigen Gewinnen in den Westen verkaufen. Die wir aber unbedingt brauchten. In seinem Betrieb müsse er den von Zulieferern produzierten Ausschuß verbauen – was aber die Erzeugnisse seines Betriebs zwangsläufig wieder zu Ausschuß degradiere. Jetzt räche sich, daß man nie Mittel für Investitionen freigemacht habe. Wie oft sei er mit seinen Anmahnungen beim Parteisekretär und bei der Leitung angeeckt! Als Genosse, habe es geheißen, könne er doch nicht so argumentieren … Die Abteilung, mit der sein Betrieb der elektronischen Steuerungselemente wegen kooperiere, die man für moderne Schreibmaschinen brauche, müsse nun bei dem großen Mikrochip-Wahnsinn mitmachen. Folglich müsse er die Steuerungselemente von anderswo beziehen, zur Zeit aus Italien. Was in etwa die Valutasumme verschlinge, die man heutzutage mit Schreibmaschinen überhaupt noch verdienen könne. Da sein Betrieb aber die Auflage habe, soundso viele Mark Valuta zu erwirtschaften, stünde ihm, Direktor Ulrich Rohde, nun womöglich ein Parteiverfahren ins Haus. Man habe dem GenossenGeneralsekretär im September ’88 mit großem Pomp den 1-Megabit-Chip überreicht – was die Bevölkerung jedoch nicht wisse, er aber von Herrn Klothe eine Etage höher: Dieser Chip sei ein handgefertigtes Muster gewesen. Und was, bitte schön, solle er mit dieser Errungenschaft anfangen? Den real existierenden Chip an die völlig veralteten real existierenden Maschinen kleben? In der Hoffnung, daß sie sich dann von selbst in mannaproduzierende kybernetische Wunderwesen verwandeln würden? Den 256-Kbit-Chip subventioniere der Staat pro Stück mit 517 Mark, auf dem Weltmarkt dagegen koste er nicht einmal mehr zwei Dollar. »Und nun frage ich euch, Richard, Meno, was wir für Schlußfolgerungen ziehen sollen.« Richard schlug vor, Fahrräder zu kaufen. Wenn alles zusammenbreche, kein Strom mehr für Züge, kein Benzin mehr für Autos, könne man sich mit Fahrrädern immer noch bewegen. Man müsse Vorräte an haltbaren Lebensmitteln anlegen und sich irgendwie für den Fall von Plünderungen, Razzien und Beschlagnahmen absichern. Wertgegenstände schützen, für die man, wie nach dem Krieg, beim Bauern noch etwas bekomme. Barbara solle Stoff abzweigen, aus dem man Kleider nähen könne. Ich wurde beauftragt,
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