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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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abwischend«
    »klick«,
    sagte Eschschloraque, »der Rundfunkknopf
    klick, und abends wurden wir zu Glas: im Hotel Lux, zerbrechlich in den Lippen eines Telefons, im Aufzugschnarren atemlos: Die Schritte, wohin gehen sie? Vor deine Tür? Die Nacht war Erdgeschehen, wir lagen starr auf einer Stethoskopmembran, die Nacht war Schlangenbaders Reich«

    TAGEBUCH
    Abends bei Niklas. Unterhielten uns über Fürnbergs Mozart-Novelle – Niklas gibt mir recht in meiner Einschätzung, was michbaß erstaunte und mein Urteil über ihn bedenken ließ –, als Gudrun hereinkam: Wir sollten mal ans Radio kommen. Wir hörten: Tod in Peking. Demonstrationen. Platz des Himmlischen Friedens. In den hiesigen Sendern: Tanzmusik. Ezzo übte stoisch. Draußen schönes Wetter. Niklas über Ariadne unter Kempe, aber ich ging. Der Duft der Glyzinien auf der Straße, vom Glyzinienhaus, wie Christian es nennt – wie mag es ihm gehen? Flimmernde Blüte, das ganze Haus schien in duftenden Flammen zu stehen.

    »klick«,
    sagte der Alte vom Berge,
    »Für’n Sechser fetten Speck
    und Gräber im Schnee, eiserne Kreuze mit Stahlhelm und angehängter Waffe, offene Gräber voller starrender Gesichter, MG-Nester mit erfrorenen wie schlafenden sich umarmt haltenden in weiße Tarnumhänge gehüllten Schützen
    Für’n Sechser fetten Speck
    und schnitten, in den ruthenischen Wäldern, den Erhängten und Erdrosselten und Erschossenen das Lederzeug vom Leib, um es zu kochen in schneegefüllten Stahlhelmen, um es weich zu kriegen zum Kauen und es hinunterzuwürgen gegen den Hunger, wie die Talgstümpchen, die der Koch noch im Vorrat hatte; weichgekochtes Leder und Talglichter fraßen die Soldaten, und die dünngeschälte Rinde von Espen
    klick,
    machte das Feuerzeug aus der Sertürner-Apotheke, steckte die Fackel in Brand, der Soldat schüttelte den Kopf, hob den Arm Was willst du tun, willst du mich hindern, das verdammte Judenloch anzuzünden, höhnte der Stellvertretende Ortsgruppenleiter der NSDAP von Buchholz, und wies mit der brennenden Fackel auf das Hagreiterhaus der Gebrüder Rebenzoll, der reichsten Kaufleute am Ort, die zu Tisch regelmäßig den Bürgermeister, den Kreisarzt, den Pfarrer, den Apotheker gehabt hatten; jetzt prangte der gelbe Stern an der Tür und an den Mauern zwischen den eingeworfenen Fenstern
    Wo sind die Rebenzolls
    Na wo schon, dort, wo sie hingehören, im Haus ist nur noch ihre Verwandtenbrut, die der Bürgermeister geschützt hat, dieserVolksverräter, er ist genauso ein Jammerlappen wie du
    Du wirst es nicht tun
    Wie du schon immer gewesen bist
    Du wirst es nicht tun, oder
    Was
    der Soldat hob die Waffe, aber der Stellvertretende Ortsgruppenleiter der NSDAP von Buchholz, Inhaber der Sertürner-Apotheke, lachte nur kurz und zuckte die Achseln, oben begann eine Frauenstimme zu flehen, als der Vater des Soldaten die Fackel hob
    Schluß damit, diese Leute
    Judengeschmeiß, Halsabschneider, sie haben mich erledigen wollen mit ihren Wucherzinsen, also
    Nein
    Verreckt!
    und warf die Fackel, das Haus begann sofort zu brennen, die Flammen loderten hoch bis zum ersten Stock, wo verschreckte Gesichter erschienen, gleich darauf setzte Tumult im Haus ein, Getrappel, Kreischen, und der Soldat blickte seinem Vater ins Gesicht, das er nicht mehr kannte, für einen Moment befremdeten ihn das graue Haar und die wie hilflos herabhängenden Hände
    Willst du die Hand gegen deinen Vater erheben
    Du hast das Haus angezündet
    Das sind doch bloß Juden
    Menschen! Menschen!
    Gehörst du jetzt auch zu den Verrätern
    Menschen!
    Hältst die Waffe auf mich
    Menschen!
    Ich schlag dich tot wie einen tollen Hund, du bist nicht mein Sohn, du Bastard
    der Soldat erschoß seinen Vater.«

    Dresden hockte als arthritischer Einsiedlerkrebs am Flußufer, Verpuppungsfäden liefen um die aufgerauhten Kanten der Neubauquader, deren Pudergrau unter die beinahe stillstehenden Schritte der Passanten wehte und sie aufblendend wie inüberlichteten Fotos löschte. Das Gehäuse knackte und ächzte. Meno blieb stehen, aber kein Riß durchzog die Luft. Das gab ihm seine Furcht als etwas Heiter-Elegantes zurück, die Tropfenform eines Flugzeugflügelquerschnitts hatte das schwere Mahlen der Betonmischmaschinen im Stadtzentrum angehoben, wippend, wie die Beinchen eines Insekts beim Abstoßen in die Strömungsmatrizen, von denen die Luft, obwohl so schneckenträge, augenblicksweise durchzeichnet war. Er sah eine zerrüttete Schiffskanzel, die Vipernzeiger des

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