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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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sah man es in den Seen schlummern, zwischen den Seerosen verzittern, wenn die Hechte erwachten. Schnee, der die Schlammfurchen der Wege Rußlands füllte, weicher, schleichender Schnee. Die Pferdeleiber dampften, der Schirrmeister und der Soldat rieben sie trocken. Sie wieherten und ruckten die Köpfe ängstlich zurück, scheuten im Geschirr, die Augen wie Pechklumpen. Flocken, langsam sinkende Hände, weiße sechsfingrige Hände, strichen den Kameraden übers Haar, die Schultern, betasteten die Zelte, Funkwagen, Kräder, Panzer. Weiße Hände schnitten weiße Weidenzweige, flochten weiße Körbe um das Biwak. Weiße hinabgestreute hinabtauchende Daunenhände, die schmolzen nicht mehr; vor Moskau, der Soldat sah die Türme: den Spasski, den roten Stern auf der Lomonossow-Universität, die farbigen Zwiebelkuppeln der Basilius-Kathedrale; vor Moskau, schraffiert von der Flak, zog der Winter seinen Eisschraubstock an, geriet die Kompanie zwischen seine Kältezangen. Der Schnee wurde rauher, streichelte nicht mehr, und manchmal hörte der Soldat Fetzen von Liedern oder Stimmen heranwehen, die kleine Meerjungfrau war tot, die rote Blume lag gefroren im Malachitberg, der Soldat meinte den fallenden Schnee scheppern hören zu können, wie Zinntellerchen klirrten die Flocken. Ein Kamerad ließ neben ihm Wasser, es gefror vom Boden herauf; er brach es fluchend ab. Schnee verpackte die Kübelwagen, die Decken auf den Pferden, die mit ihren bereiften Nüstern an die steifgeeisten Zelte stupften. Schnee sperrte die Panzer, die auf Moskau rollten, und dann gefror derDiesel, dann gefror das Öl, und die Soldaten der Kompanie sahen die Menschen auf den Straßen Moskaus hin- und herhasten, sahen Straßenbahnen und Transparente.«
    »Und links- und rechtsherum der Schwung, das hält die Lebensgeister jung, Tanz in den Mai, Genossinnen und Genossen!«
    »Was kommt herauf aus tiefem Schlaf der Zeit«, hörte Meno Eschschloraque murmeln, »aus tiefem Schlaf der Zeit, und dann, Rohde, diese aufzitternde Melodie, diese empor-, ja, aufflackernde, schwanenweiße Melodie, Stern über Moskau, und Lewitan sprach, aber kennen Sie ihn, kennen Sie ihn nicht? Sie waren ein kleiner Junge, ich weiß, ich kenne Ihren Vater, ich kannte Ihre Mutter, was kommt herauf aus tiefem Schlaf der Zeit?«

71.
Die Hauptaufgabe
    »klick«,
    sagte der Alte vom Berge, »Farnzunge knisterte aus dem Volksempfänger, Lale Andersen sang Lili Marleen, und Zarah Leander sang Ich weiß es wird einmal ein Wu-hunder gescheh’n, deutsche Frontweihnacht, und Goebbels schrie, und der Größteführerallerzeiten schrie, und die Reichsrundfunkstimmen, und die Russen schrien. Urrääh urrääh, sie brachen vor Moskau aus, schwarze Punkte erst am weißen Horizont, Nadelstiche, verfließende Schwärme, dann Klumpen, dann Nester, und dann kamen die Panzer von den Flanken auf uns zu, und unsre lagen mit vom Eis geknackten Ketten und hatten keinen Sprit, und ein Kamerad schoß mit einer Panzerfaust in den Öltank eines T 34, der leckte, das Öl eine schwarze Spur im Schnee, und brannte, die Flammenspinnen liefen über die Ketten, aber der T 34 fuhr weiter, die fuhren auch ohne Öl, und dann überm Kameraden in seinem Panzerloch einmal rechts gedreht, der Soldat feuerte das Magazin leer, aber es machte nur pling pling pling auf den Panzerflanken, und einmal links gedreht, bis die Schreie des Kameraden nicht mehr zu hören waren, und dann drüber, und der Soldat nahm eine Handvoll Schnee und sah sie an, er wußte nichts anderes
    Häng ihn auf
    Nein
    Auf dich ist das Los gefallen, also
    Ich will nicht
    Häng ihn auf, den Juden
    Ich kann nicht
    Damit du es lernst, du Feigling, das ist ein Befehl
    das war in dem ukrainischen Dorf. Der Hauptmann zog die Pistole und richtete sie auf den Soldaten, der sah den schwarzen Kreis der Mündung auf sein Gesicht zielen. Ein Befehl, und wenn du ihn verweigerst, blas’ ich dir das Licht aus! Und die Kameraden sagten zum Soldaten Na los! Ist doch bloß ’ne Judenlaus! Und zogen den dünnen jungen Mann am Haar, ein zwanzigjähriger Bursche war es, so alt wie der Soldat, und sein Hut lag im Schnee, und daneben wimmerte sein Mädchen, kroch zum Hauptmann und zog ihn am Mantel, er stieß sie weg, sie kam wieder, er schoß, sie blieb liegen. Da sagte der Soldat Ich kann nicht. Und der Hauptmann Und ob du kannst, ich werd dir Beine machen! Hier! Und warf das Galgenseil über einen Ast der Linde neben dem Dorfbrunnen, die am Stamm keine Rinde mehr hatte, die

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