Labyrinth der Puppen: Thriller (German Edition)
Kapitel 1: RHODA
Mein Instinkt drängt mich, seine Hand zu packen, ihm den Zeigefinger auszurenken und den Flachwichser zu Boden zu schicken. Aber ich rühre mich nicht, atme nur tief durch, um meinen Puls zu beruhigen. Ein Presslufthammer bearbeitet meine Brust, genau wie nach einem Abend mit zu viel Ecstasy, aber ich muss mich unbedingt zusammenreißen und verdammt noch mal beruhigen. Ich winde meine Schulter aus seinem Griff.
»Sir«, bellt er mich an. Seine Stimme klingt nasal und herrisch. »Warum sind Sie gerannt?«
»Ich bin kein Sir«, sage ich und drehe meinen Kopf so, dass er mein Gesicht besser sehen kann. Er zuckt zusammen, genau wie ich es erwartet habe, gibt sich nicht einmal Mühe, seine Abscheu zu überspielen. Die meisten Leute versuchen zumindest, das Zusammenzucken zu verbergen, aber nicht dieser Typ – ich weiß noch nicht, ob es ihm scheißegal oder er nur zu beschränkt ist, um es besser zu wissen. Er hat ein aufgedunsenes Gesicht, schnurrbärtig, und sieht aus wie jemand, der seinen Fäusten das Reden überlässt. Die beige Wachdienstuniform ist voller Ketchupflecken, sein Bauch quillt über den Gürtel wie ein Sack mit toten Hundebabys. Eine Locke aus schmierigen grauen Haaren hängt ihm in die Stirn, ein fischbauchweißer Fettwulst lugt über den Rand der Hose, an der ein Knopf fehlt.
»Ma’am. Warum hatten Sie es so eilig, hm?«
Diesen Neandertaler um Hilfe zu bitten, ist so ziemlich das Letzte, was ich will. Aber mir gehen die Alternativen aus. »Ich suche ein Kind.«
»Wie meinen Sie das, Ma’am?«
»Ich habe ein Kind verloren.«
»Was meinen Sie damit, Sie haben ein Kind verloren?«
»Ich bin zusammen mit ihm hier im Einkaufszentrum gewesen und es ist verschwunden. Ist das verständlich genug für Sie?«
Der Typ richtet sich etwas gerader auf, legt die Hand auf das Pistolenholster an seinem Gürtel und zückt ein Walkie-Talkie. Er starrt mich misstrauisch an; wahrscheinlich überlegt er, was jemand wie ich wohl so spät am Abend mit einem Kind hier zu suchen hat. Von der Ladenzeile gegenüber glotzen mich zwei Verkäuferinnen mit identischer Perücke und verschmiertem Eyeliner an, während sie einen Shop für billigen Schmuck und Accessoires abschließen. Ich starre ihnen in die Augen und forme mit den Lippen die Worte ›Verpisst euch‹. Sie schieben sich ihre Glitzerhandtaschen über die Schultern und huschen mit laut klackernden Schuhen und gesenkten Köpfen davon. Am Ende des Gangs verschwinden sie um eine Ecke. Nur eine Andeutung ihres nervösen Kicherns schwebt zu mir zurück.
»Ihr Akzent«, sagt er. »Sind Sie Touristin? Sie sehen nicht aus wie ’ne Touristin.«
»Was meinen Sie damit?«
Er mustert meine Armeeklamotten.
»Ich bin keine Touristin«, gebe ich zu.
»Das Kind, das Sie suchen ... Junge oder Mädchen?«
»Junge.«
»Wo haben Sie ihn zuletzt gesehen, Ma’am?«
»Im Buchladen.«
»Welchem?«
»Dem großen ... ›Only Books‹ oder wie der heißt.«
Ich warte, dass er einen Schritt zurücktritt, bevor ich mich wieder auf die Beine kämpfe. Meine Knie sind aufgeschürft und knacken entsetzlich, als ich mich aufrichte. Der Drecksack hat mir weder seine Hilfe angeboten noch mich gefragt, ob mir was fehlt. Meine Handflächen, mit denen ich den Sturz abgefangen habe, sind taub, deshalb schüttle ich sie kräftig aus, um die Durchblutung anzukurbeln. Ich bilde eine Faust und der Daumen der rechten Hand fühlt sich steif an. Das Gelenk knackt, als ich ihn bewege. Ich stecke die Hände in die Taschen. Meine Finger finden den Umschlag und schließen sich schützend um ihn.
Wenn er die Bullen ruft, bin ich geliefert. Ich muss mich normal verhalten. Unauffällig.
»Können Sie den Jungen beschreiben, Ma’am?«
Ich muss mich mehrmals räuspern, bis ich die Worte mit der nötigen Ruhe herausbringe. »Etwa acht Jahre alt, SpongeBob-T-Shirt, schwarze Haare, leichtes Übergewicht.« Ich atme tief durch. Das hilft. »Wahrscheinlich hat er beim Stöbern alles um sich herum vergessen.«
Der Typ hält die Hand hoch. »Das lassen Sie mich mal besser beurteilen, Ma’am.« Er knurrt wichtigtuerisch in sein Walkie-Talkie: »Simon, bitte kommen! Simon.«
Es knackt und rauscht, dann: »Ja, Boss, Simon hier. Over.«
»Simon, wir suchen nach einem Kind, das seine Mutter verloren hat. Haltet die Augen auf nach einem kleinen schwarzen Jungen ...«
»Er ist weiß!«
Er starrt mich an. Seine Augen haben einen leichten Gelbstich. Überreste von Akne zeichnen sich auf
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