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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Fingernägel, die neue Uhr oder den weißhaarigen Mathematiklehrer Baumann, der vorn, weit entfernt, vom Pult aus eine Einweisung in sozialistische Jugenderziehung gab, dabei wirkte sein Apfelbäckchengesicht eigenartig lausbübisch – als glaubte er selbst nicht alles von dem, was er erzählte. Aber Christian spürte, daß man weniger dieser Freundlichkeit als dem Blitzen der blank-scharfen, randlosen Brille trauen sollte … Bei diesem Brilleblitzer mit dem Oberstudienratskopf, das ahnte Christian, würde er nicht gut angeschrieben stehen. Zu grauenhaft waren seine mathematischen Fähigkeiten. Die Dunkle hinten bei den Fenstern, dachte er, war bestimmt gut in Mathe, und bestimmt war sie überhaupt gut in der Schule. Eine Streberin, klarer Fall.
    Also, warum schließt du dich von allem aus? hatte die Streberinan jenem Nachmittag im Sommer-Arbeitslager gefragt, in der Schulbibliothek, den Fön in der Hand; nur sie und er im Raum. Dem Dresdner Großstadtkind ist es wohl langweilig oder zu niedrig, was wir unterbelichteten Dorfkinder machen? Er wollte etwas Schlagfertiges erwidern, aber es fiel ihm nichts ein, und das erhöhte seine Wut um so mehr, als Verena gleich darauf, ohne eine Antwort abzuwarten, achselzuckend hinausging.
    Dresdner Großstadtkind: Wie hatten sie über ihn heimlich – und manchmal auch weniger heimlich – gespottet, sich die Münder zerrissen über seine sonderbaren Gewohnheiten: Er ging nicht mit den anderen duschen, sondern richtete es stets so ein, daß er allein war; um nichts in der Welt hätte er seine pubertätsgeplagte Haut freiwillig fremden Blicken ausgesetzt; er fuhr nicht mit nach Freital in die Schwimmhalle, und er hing lieber seinen Gedanken nach und träumte, als die Gesellschaft der anderen zu suchen. Einzig bei Jens Ansorge und Siegbert Füger spürte er so etwas wie Verständnis; jedenfalls ließen sie ihn in Ruhe. Es hatte ihn gefreut, als er erfuhr, daß er mit ihnen gemeinsam ein Internatszimmer bewohnen würde. Wenn er auch nicht mitkam, wenn die anderen in die Stadt gingen – er schaute sich Waldbrunn ebenfalls an, für sich und in den Abendstunden, wenn er einigermaßen sicher sein konnte, daß er den anderen Schülern nicht begegnen würde. Waldbrunn, Hauptstadt des Osterzgebirges, die F 170 schlängelte sich oberhalb der Schule vorbei, fiel ins Flußtal der Roten Bergfrau ab, schnitt den Ortskern in Richtung des Erzgebirgskamms und der tschechischen Grenze, die man bei Zinnwald erreichte. Geduckte, einfache Häuser, Kirch- und Schloßturm; in der Ferne, wenn man mit dem Bus von Dresden kam, über den Windhaushügel zum Ort hinabfuhr und das Neubaugebiet von Waldbrunn zur Rechten auftauchte, konnte man das Kaltwasser blinken sehen, die Talsperre, die den zweiten Waldbrunner Fluß, die Wilde Bergfrau, staute. Links der Fernverkehrsstraße lag ein Kartoffelfeld, im Arbeitslager hatten sie Kartoffeln gelesen, zehn Pfennig gab es für den Korb, harte Arbeit, sie lasen im Akkord, der Rücken schmerzte von der gebückten Haltung, und er, das Dresdner Großstadtkind, war einer der schlechtesten gewesen, selbst viele der Mädchen hatten mehr Körbe geschafft als er. An den beiden Kartoffellesetagenwar er abends völlig erschöpft auf seine Liege gekrochen; einige hänselnde, sarkastische, auch verächtliche Bemerkungen hatte er einstecken müssen. Von Anfang an spürte er eine Kluft zwischen sich und den anderen Schülern dieser Erweiterten Oberschule. Er besaß eine Postkartensammlung, die er abends, beim Schein der Leselampe, oft ansah. Es waren sepiabraune und kolorierte Ansichten ferner Orte mit exotisch klingenden, die Phantasie anregenden Namen: Smyrna, Nice. Man sah das Mittelmeer schaumig gegen die Promenade des Anglais rollen, links im Bild ein Tontopf mit einer Agave, am rechten Rand die Reihe mondäner Hotels entlang der Promenade, gesäumt von Palmen. »Salerno, Piazza Mo Luciani« auf einer Fotografie, die an den Rändern ins vergilbte Weiß der Postkarte floß; wie abgewischt von den löschenden Fingern der Zeit. Zu den tiefsten und wirklichkeitsentrücktesten Träumereien führte aber eine Serie von Konstantinopel-Karten, die er sich zu Hause, im Briefmarken- und Ansichtskartengeschäft von Herrn Malthakus, aus einer Serie von Doubletten hatte aussuchen dürfen. Bleiblaues Meer: »Vue de l’Amirauté sur la Corne d’or«; »Vue de Beycos, côte d’Asie (Bosphore.)«; »Salut de Constantinople, Le Selamlik. Revue militaire« mit einer Menge schwarzer,

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