Der Turm
clavis et clavus medicinae.«
»– Schlüssel und Steuerruder der Medizin«, übersetzte Schwester Elfriede, die die Instrumente zureichte, mit trockener Stimme. »Junger Mann, diese Frage bekommen in diesem OP-Saal alle Leipziger Studenten seit über fünfzehn Jahren gestellt.«
»Wollen Sie damit andeuten, daß ich beginne, Sie zu langweilen?«
Schwester Elfriede verdrehte die Augen. »Ich gebe Doktor Wernstein jetzt lieber die Schere, als Ihnen darauf zu antworten. Sie wissen, daß Sie unsere Sonne sind, Herr Oberarzt.«
Wernstein griff murrend zu und begann das derbe Gewebe aufzuschneiden. – Wie schwer es ihm fällt, zuzugeben, daß ich recht hatte! Jetzt säbelt er es doch auf! Aber hol’s der Teufel, ich war ganz genauso! Richard schmunzelte, stillte laufendes Blut. Zugleich ärgerte er sich über den Pflichtassistenten. Diese jungen Leute, kamen zur OP und hatten keine Ahnung! Wenn wir uns das früher getraut hätten … Er dachte an einige Chirurgen, bei denen er großgeworden war, eruptive Naturen, die zu Wutausbrüchen neigten, sobald etwas nicht genau nach ihren Vorstellungen lief, die meisten aus den Operationsbunkern und Frontlazaretten des Krieges kommend, aus den Mühlen kaum vorstellbarer Menschenvernichtung. Bei Grosse hatten die Assistenten alles vorzubereiten; er schritt, wenn sie fertig waren, gottgleich und mit halb geschlossenen Augen, unansprechbar, wie in Trance, die erhobenen, von der Desinfektion noch feuchten Hände leicht schwenkend, zum OP-Tisch, ließ sich nur noch einkleiden und die Handschuhe überstreifen, bevor er schweigend die Hand für das Skalpell öffnete, das die OP-Schwester mit gebührender Ehrfurcht hineinlegte. Wehe dem Assistenten, der eine seiner plötzlich ins Schweigen abgeschossenen Fragen nicht hätte beantworten können! Der Chef sah ihn nie mehr an, seine Karriere bei ihm war beendet.
»Faden.« Richard band ein blutendes Gefäß ab. Wernstein drang mit entschlossen geführten Schnitten in die Tiefe vor, tastete nach dem Bruch. Aus allen seinen Bewegungen, der Eleganz und Sicherheit, mit der er die Instrumente führte, dem fein justierten Empfinden dafür, wann es angebracht war, vorsichtig zu Werke zu gehen und wann man entschiedener arbeiten konnte, seinem Gefühl für die Tücken einer Operation, all den Abweichungen von den Operationslehren und der Anatomie, bei denen man sich, plötzlich zum Blinden in einem stockdunklen Tunnel gemacht, nur auf sein Fingerspitzengefühl verlassen mußte: aus all dem sprachen die Begabung, die Intuition und die glänzenden technischen Fähigkeiten des geborenen Chirurgen. Richard hatte es immer wieder überrascht, wie verschiedenartig es in seinem Beruf zuging. Als Medizinstudent hatte er geglaubt, daß es zwischen Arzt und Arzt, und speziell zwischen den Chirurgen, keine Unterschiede gebe. Die Operationslehren regelten alles, undChirurgie schien so etwas wie eine Katalogerfüllung zu sein: jeder Patient war ein Mensch, und was der Mensch, der den Chirurgen interessierte, war, sah man in den peniblen Zeichnungen der Anatomischen Handbücher von Spalteholz und Waldeyer. Dort und dort sitzt das Problem, dies und jenes sind die anatomischen Verhältnisse, auf geht’s. Die Praxis hatte ihn eines Besseren belehrt. Da gab es unendlich langsam arbeitende Chirurgen, die jedes Gefäß, jedes Schleimhäutchen fürchteten und diese Empfindung: Furcht, beim Operieren auf ihre Umgebung übertrugen, und die bei aller Sorgfalt doch keine besseren Ergebnisse, manchmal sogar schlechtere, als ihre scheinbar leichtsinnigeren Kollegen erzielten. Richard dachte an Albertsheim, seinen Assistentenkollegen bei Uebermuth in Leipzig. Albertsheim, den sie »Guarneri« genannt hatten, denn wenn er einen guten Tag hatte, waren seine Intuition, seine Schnelligkeit bei perfekter Technik so staunenswert wie der Klang einer Guarneri-Geige. Dann erreichte Albertsheim Höhen, wie er, Richard, sie nicht erreichte und wohl nie erreichen würde, und die selbst Uebermuth zu bewundernden Ausrufen veranlaßten. Hatte er allerdings einen schlechten Tag, operierte er »wie ein Fuhrknecht«, wie sie es nannten, und »Fuhrknechtsgeigen« hatte an seinen schlechten Tagen angeblich auch Guarneri gebaut, deswegen der Spitzname, über den sich Albertsheim nicht einmal ärgerte, im Gegenteil, er kultivierte die Künstlerattitüde. Dagegen war es ihm schwergefallen, auch nur durchschnittliches diagnostisches Gespür zu entwickeln, er konnte das Geräusch, das ein
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