Der Turm
die ihn leider etwas angehen durften. Vor allem interessierte sich Verena für den Kalender und mehr noch für die darauf abgebildeten Musiker. Verena, die Unnahbare, die Spöttische, die Schöne. Christian hatte von ihr geträumt. Vielleicht war es ihr Haar gewesen mit seinem Musikinstrumentenbraun, das ihm an ihr zuerst aufgefallen war, in der Sommer-Arbeitswoche, die die künftigen Schüler der EOS »Maxim Gorki« hatten ableisten müssen; vielleicht ihre Augen, glänzend dunkel wie die Kirschen von dem knorrigen Baum im Garten des Uhren-Großvaters in Glashütte, wenn sie schon überreif geworden waren und ihre prall gespannte Haut im nächsten Regenaufplatzen würde. Wahrscheinlich aber eine Bewegung, sie hatte sich die Haare gefönt in der Schulbibliothek, in der die Hälfte der Jungen während des Arbeitslagers untergebracht gewesen war; er allein hatte auf der Liege gelegen an jenem Nachmittag; sie war hereingekommen und hatte ihn gefragt, ob sie die Steckdose benutzen dürfe, ihre drüben in der Mädchenunterkunft funktioniere nicht; und dann, ins Fauchen des Föns hinein, hatte sie wissen wollen, warum er hier im dämmrigen Zimmer liege und sich von allem, was die anderen taten, ausschließe. Er ließ das Buch sinken, in dem er zu lesen vorgab, es waren Goethes »Wahlverwandtschaften«, die ihn tödlich langweilten, aber felshoch über dem Kram zu stehen schienen, den die anderen lasen – wenn sie lasen –, und keinen Zweifel über sein Niveau aufkommen ließen. Sie starrte ihn an; er starrte zurück, verwirrt von den feingezeichneten dunkelroten, sich unter seinem Blick zu einer herausfordernden Schnute aufwölbenden Lippen, dem Zeigefinger, mit dem sie sich am Hals kratzte, dem von einem danebengegangenen Hammerschlag schwarz verfärbten Fingernagel. Die Mädchen hatten die Bänke auf dem Schulhof repariert, aus dem Radio, das Herr Stabenow, der jungenhafte Physiklehrer, neben den Fahnenmasten aufgestellt hatte, röhrte die Stimme der »Silly«-Sängerin Tamara Danz; plötzlich der Aufschrei, und alle Jungen waren zur schluchzenden Verena gestürzt, nur er und Siegbert Füger nicht. »Selbst zum Nägeleinkloppen zu doof, diese Weiber«, hatte Siegbert naserümpfend kommentiert. »Und wie sie alle rennen. Mit der wird sowieso keiner froh, das sag’ ich dir. Viel zu hübsch. Und bestimmt eingebildet wie sonstwas. Meine Mutter sagt immer: Junge – mit Edelsteinen bauste keene Häuser. Und meine Mutter hat Ahnung, du.«
Christian linste zu Falk hinunter. Der schnarchte immer noch, allerdings hatte er sich jetzt das Kissen über die Ohren gezogen.
Schon beim ersten Treffen der zukünftigen Oberschüler war sie ihm aufgefallen. Die Schüler waren mit den Eltern gekommen. Der Dacia mit dem Waldbrunner Kennzeichen hatte neben dem Lada aus Dresden geparkt; Richard hatte den Sanitätskoffer auf der Hutablage und die Arzt-Sonderparkkarte auf dem Armaturenbrett des Dacias entdeckt und sofort eine kleine Plaudereimit dem Kollegen angeknüpft. Hoffmann. Winkler. Sehr erfreut. Ganz meinerseits. Blabla. Blablabla. Verena hatte gewartet, kritisch das Dresdner Nummernschild gemustert, das gemauerte Eck mit Fahnenmasten und Maxim-Gorki-Büste, hatte dann Christian einen raschen Blick zugeworfen, so daß Robert ihm grinsend: Guck dir die Kirsche an, Mann, ins Ohr blies. Für das Treffen war der Mehrzweckraum im Schulkeller hergerichtet worden. Es gab ein Klavier, ein Marx-Engels-Lenin-Plakat vor einem mit rotem Fahnentuch bedeckten Rednerpult, einen Tisch dahinter, an dem sich einige Lehrer miteinander unterhielten, unbeeindruckt vom Stimmenschnattern. Die meisten Schüler kannten sich untereinander schon. Christian kam es vor, als ob alle ihn musterten, denn er schien der einzige Schüler zu sein, den niemand kannte. Es war, als er eintrat, nur noch ein Platz am Eingang frei; man saß dort wie auf einem Präsentierteller, was Robert, der frech einen Kaugummi kaute und seine Blicke zu den Mädchen schweifen ließ, nicht im geringsten zu stören schien. Christian dagegen schämte sich; justament an diesem Tag blühte seine Akne wie ein Weidenbaum im Frühling. Verenas Familie hatte sich in die hinterste Reihe unter die hochliegenden Kippfenster gesetzt, so daß Christian Verena beobachten konnte. Sie grüßte einige Mitschüler, freundlich, aber distanziert, wie ihm schien. Das Stimmengewirr schwoll allmählich ab. Verstohlene Blicke. Christian senkte den Kopf und wagte es nicht, etwas anderes anzusehen als seine
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