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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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würfelförmiger Kutschen, gepunktet von den roten Fezen der Menge. Das waren die Orte, an denen man sein und leben mußte. Christian träumte, wenn er die Karten betrachtete, von Abenteuern, belauschten Piratengesprächen in Hafenspelunken, durch die es ihm gelingen würde, wunderschöne entführte Frauen zu retten. Konstantinopel. Salerno. Der Bosporus. Und »la Corne d’or« hieß das Goldene Horn. Dort lebten die Helden, dort gab es die Abenteuer. Und was hatte er? Waldbrunn. Er ging durch das Städtchen und konnte beim besten Willen keine Segelschiffe erkennen wie auf den Bildern aus Konstantinopel, der Märchenstadt. Kein Muezzin rief von der dunklen, trutzig wirkenden Kirche am Markt, und Herr Luther, aus schwarzgewordenem Sandstein, auf dem sich die Tauben ausruhten und weiße Thesen hinterließen, verkündete »Eine feste Burg ist unser Gott« in gemeißelten Buchstaben. Keine der beim Fleischer oder Bäcker am Markt anstehenden Frauen ähnelte Prinzessin Fatme, die zum Dank für ihre Rettung aus den Händen des Schwarzen Zurgaden abenteuerlustigen Almansor – das war Christians Deckname im Morgenland – zum Mann nehmen würde. Aber heiraten: Christian stand am Brückengeländer über der Wilden Bergfrau, die über rundgeschliffene fußballgroße Steine schäumte, und schüttelte den Kopf. Nie würde er heiraten, nie, nie im Leben. Ein Abenteurer hatte Abenteuer, ein Held war einsam; mit Fatme gab es eine Affäre, die, wie in den Kinofilmen, im Sonnenuntergang endete, wild, schmerzlich und traurig schön. Er blickte zur Lohgerberei; die Wilde Bergfrau hatte sie früher mit ihrem stahlklaren Wasser versorgt; jetzt befand sich ein Museum darin. Im Herbst war er gern dem Lauf der Wilden Bergfrau gefolgt, hatte rote Ahornblätter hineingeworfen und ihrem tanzenden Auf und Ab nachdenklich zugeschaut, mit gesenktem Kopf und auf den Rücken gelegten Händen; hätte Verena ihn so gesehen, wäre wieder Spott in ihre Augen geschlichen über seine Posen. In der Großstadt wird man wohl einfach früher reif, hätte sie gerufen, wie an jenem Nachmittag, als ihre Arbeitsgruppe ins Kino gegangen war, das sich am Ende der Uferstraße der Wilden Bergfrau befand, hinter dem Stadtschloß, das jetzt der örtlichen Parteileitung als Domizil diente. Sie hatte ihn angefunkelt und sich mit dem Zeigefinger das Haar eingedreht, und er hatte, in seiner Wut, bei sich gedacht: Das verstehst du nicht, du Waldbrunner Schnepfe; ich komme gerade aus Konstantinopel und nicht aus deinem Osterzgebirgskaff mit seinem gepflasterten Marktplatz und zehn gebückten Häusern drumherum; ich habe das Rauschen der Segel Sindbads im Ohr, nicht das an den Kotflügeln der paar Provinz-Trabbis, die eben an uns vorbeikläffen. Wenn du wüßtest, daß Sindbads keine Trabbis fahren.

9.
Alltag bei Äsculap.
Leid eines Pflichtassistenten
    »Messer.«
    Die OP-Schwester reichte Wernstein das Skalpell.
    »Bitte Licht nachstellen.«
    Richard amüsierte sich: Da hatte er Wernstein diese Operationüberlassen und selbst die erste Assistenz übernommen, und nun behandelte der ihn tatsächlich als Assistenten. Aber wenn schon, denn schon. Er griff nach oben und fokussierte das Licht der OP-Lampe auf das mit grünen Tüchern umrahmte Operationsfeld. »Bitte, Herr Chefarzt.«
    Wernstein trennte die Faszie auf. Er ging auf den Scherz nicht ein; die Anspannung war ihm anzumerken, als er mit dem Finger den Schnitt zu erweitern versuchte. Der Pflichtassistent, Herr Grefe, der auf der anderen Seite des Operationstisches stand und die Haken hielt, grinste unter seinem Mundschutz; die Mundbewegung, die den Vliesstoff breiter zog, und die Fältchen in den Augenwinkeln verrieten es.
    »Die Faszie schaffen Sie nicht mit dem Finger. Jede Wette.«
    »Mal sehen.« Wernstein schnaufte, fragte den Anästhesisten, ob er das Antibiotikum eintropfen lasse.
    »Über welche Faszie sprechen wir eigentlich?« Grefe, den Richard gefragt hatte, zuckte zusammen. »Faszie … Die Fascia …«
    »– lata«, ergänzte Wernstein nach einer Weile. »Stimmt aber doch nicht ganz, Herr Kollege. Denn was ich hier mit meinem Finger aufzuhebeln versuche, aber wohl doch nicht gedosenöffnet kriege, ist schon … der Tractus iliotibialis. Wo haben Sie Physikum gemacht?«
    »In Leipzig.«
    »Da gibt’s einen Spruch über dem Eingang des Anatomischen Hörsaals.«
    Den mußte man kennen bei Oberarzt Hoffmann. Der Anästhesist, der eben über den Rand des Absperrungstuches schaute, feixte.
    »Anatomia –

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