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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Spitzenkatarrh in der Lunge machte, kaum von dem eines Pleuraergusses unterscheiden, das leicht metallische Raspeln über einer Tuberkulosekaverne nicht vom Giemen einer Asthmatikerlunge. Aber das waren klinische Fertigkeiten, das ging die Internisten an, über die er, wie so manche Chirurgen, mit gelinder Herablassung sprach – als ob klinische Kenntnisse für einen Operateur entbehrlich wären. Auch für Weiterentwicklungen konnte er sich nicht erwärmen. »Große Chirurgen machen große Schnitte«, hatte Albertsheim über Richard gespottet, dem dieser eherne Grundsatz der Monarchenchirurgie dubios geworden war, da er hatte erfahren müssen, daß große Schnitte auch große Infektionen verursachen können. Da war Wernsteinanders. Was hatte Albert Fromme gesagt, der erste Rektor der Medizinischen Akademie? Ein Chirurg hat das Herz eines Löwen und die Hände einer Frau. Und Pflichtassistent Grefe verrückte jetzt eigenmächtig die Haken. Wernstein und Richard sahen gleichzeitig auf.
    »Die Haken setzt der Operateur um, nicht Sie!« brummte Wernstein unwillig. »Jetzt sehe ich nämlich nichts mehr. Wenn Sie nicht mehr können, sagen Sie Bescheid.«
    Richard wurde zornig. Dieser junge Mensch war so weit weg von ihnen, was Alter und Ausbildungsstand betraf, und gewiß mußte man sich sachlich und kollegial verhalten, aber … Es war nun einmal so, er konnte diesen Pflichtassistenten nicht leiden. Er wußte, daß das mit dem Umstand zu tun hatte, daß Grefe der Sohn von Müllers Schwester war und der Professor Richard in einem peinlich starren Gespräch darum »gebeten« hatte, einen bereits eingestellten Pflichtassistenten in eine andere Klinik zu schicken. Freilich, Grefe konnte nichts für diese Machenschaften, wußte wahrscheinlich gar nichts davon; man mußte objektiv zu bleiben versuchen. Und die mangelnde Fachkenntnis würde sich schon renken. Er als Pflichtassistent hatte sich, wenn er ehrlich war, auch mehr um die Krankenschwestern als um die Chirurgie gekümmert; außerdem war ja die Pflichtassistenz dazu gedacht, praktische Kenntnisse zu erwerben. Trotzdem: »Pertrochantäre Oberschenkelfraktur – wodurch ist sie gekennzeichnet?« brach der Hochschullehrer in ihm durch. Wieder begann Grefe zu drucksen. »Ich … äh … bin erst seit zwei Tagen bei Ihnen …« »Aber Sie haben doch ein Staatsexamen im Fach Chirurgie abgelegt, haben Sie denn da die Unfallchirurgie überschlagen?«
    »Herr Oberarzt, soll ich ein wenig Musik machen lassen?« Schwester Elfriede kannte die Zornesausbrüche ihres Cheftraumatologen. Der aber hatte keine Lust auf Musik. Dieses Bürschchen würde es vielleicht seinem Onkel hinterbringen, daß die Unfallchirurgen einmal mehr Musik während einer Operation hörten, was für Müller der Ausdruck von Nachlässigkeit und Bohemechirurgie war, und für Bohemechirurgen hatte der Professor nichts übrig. »Das müßte Herr Wernstein entscheiden, er ist der Operateur. Haken her.« Er nahm Grefe die Haken aus der Hand und befahl ihm mit knappem Nicken, auf seine Seitehinüberzuwechseln. »Aufpassen, daß Sie sich nicht am Bildverstärker unsteril machen. Laß ihn mal tasten«, sagte er zu Wernstein, ihn unwillkürlich duzend. »Tasten Sie den Bruch?« Grefe stocherte in der Wunde herum.
    »Die Bruchlinie befindet sich zwischen großem und kleinem Rollhügel, fast unmittelbar am Schenkelhals. Sie wissen, wo wir hier operieren?«
    »Ja, jetzt hab’ ich’s. Im Grunde am Hüftgelenk, dachte ich?«
    Wernstein war zurückgetreten und wartete mit erhobenen blutigen Händen.
    »Gut. Wir wechseln wieder. – In welchem Winkel stehen Oberschenkelknochen und Schenkelhals beim Erwachsenen zueinander?«
    Grefe, der wieder auf seiner Seite stand und die Haken anhob, nannte ein falsches Maß.
    »Schenkelhalsbrüche – wie werden sie eingeteilt und warum?« Seine Kenntnisse waren lückenhaft.
    »Insgesamt fünf falsche Antworten auf meine Fragen, Herr Grefe. Wir haben hier eine Spielregel. Für jede falsche Antwort müssen vom Befragten einhundert Tupfer gedreht oder Kompressen gelegt werden. Macht fünfhundert Tupfer für Sie. Melden Sie sich nach Dienstschluß bei der diensthabenden OP-Schwester.«
    Das hatte gesessen. Wernstein präparierte schweigend weiter. So schnell, wie der Zorn gekommen war, verrauchte er. Richard spürte, daß er zu hart reagiert hatte und daß er Grefe für die Methoden seines Onkels strafte. Jetzt tat ihm der Junge leid. Du machst es selber wie die Kommunisten! dachte er. Dabei

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