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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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starrten geradeaus, trugen ihre Kalaschnikows präsentiert; die Gesichter hatten einen teilnahmslosen Ausdruck, und dennoch, das wußte er, beobachteten sie jede seiner Bewegungen. Auch den Blick des Hauptmanns spürte er hinter dem spiegelnden Fenster des Kontrolldurchlasses, das auf den Platz ging. Er wandte sich nach rechts, zur Nadeshda-Krupskaja-Straße, hielt sich nahe am Gitterzaun, hinter dem der Obere Plan jäh abfiel und den Blick auf tiefergelegene Bereiche Ostroms freigab. Die Kohleninsel lag im Dunst. Neben dem Majakowskiweg mit dem »Haus der Kultur« verlief eine Bahnstrecke; eine Abteilung Soldaten war damit beschäftigt, die Gleisefreizuschaufeln; Dampfschwaden stiegen schon aus dem Tunnel am Ende des Majakowskiwegs; in wenigen Augenblicken würde die Schmalspurbahn aus der Höhlung auftauchen, zwei knappe Pfiffe, bestimmt für den Rangierwärter des kleinen Heizkraftwerks am German-Titow-Weg, ausstoßen, im Bogen durchs Tal fahren und in der anderen Tunnelmündung, von Menos Standpunkt aus nicht einsehbar, verschwinden. Da kam der Zug schon in Sicht, ließ seine Pfiffe hören. Der Lokomotivführer, er hatte sich aus dem Fenster gelehnt, ruckte an der Eisenbahnermütze und zog den Kopf wieder ein, als er die Soldaten passierte, die jetzt rauchend, auf ihre Schaufeln und Schippen gestützt, neben den Gleisen standen. Auf dem Kohlentender hockte ein Mann mit ascheverschmiertem Gesicht und Fell-Schapka, deren Ohrenschützer unter dem Kinn zusammengebunden waren, und winkte lachend, mit blitzenden Zähnen, die Hände in unförmigen Fäustlingen, so daß sie wie Bärenpfoten wirkten, zu Meno hinauf. Das war ihm unangenehm; er warf einen Blick auf die Soldaten, die die Geste bemerkt hatten und jetzt ebenfalls zu ihm hinaufstarrten, trat etwas zurück, nicht nur, um sich der Beobachtung zu entziehen, sondern auch, weil sich die Lokomotive in diesem Moment unter ihm befand und er den dicken, mit Rußpartikeln verunreinigten Dampf aus der Esse abbekommen hätte. Dies war also noch immer so: Die »Schwarze Mathilde«, wie der Zug genannt wurde, versorgte das Kraftwerk und damit die Haushalte Ostroms mit Kohle, eine autarke, nur dieses Viertel befahrende Linie, die von der Kohleninsel kam, aus einem offiziell aufgelassenen, insgeheim jedoch weiterbetriebenen Bergwerk, wie Hannas Vater ihm einmal erzählt hatte. Auch der Lokführer war der gleiche; am Walroßschnauzbart hatte er ihn wiedererkannt.
    Die Nadeshda-Krupskaja-Straße verlief in mäßig ansteigenden Serpentinen zum Hangkamm hinauf. Taxushecken, zu lotrechten Mauern geschnitten, schirmten eine Reihe zweistöckiger Einfamilienhäuser ab, die alle den gleichen hellgrauen Rauhputz trugen, je eine Garage und am Gartenzaun Briefkästen in Form von Kuckucksuhren besaßen, die mit Tannenreisern und kleinen Jahresendflügelfiguren – so sagte man hier angeblich, erinnerte sich Meno, durch die Nase lachend – geschmücktwaren. Neben den säuberlich geräumten und mit Splitt bestreuten Vorgartenwegen wuchs in jedem Grundstück eine Douglaskiefer; in den Ästen hatte man jeweils eine Vogelbirne und einen Meisenring befestigt; aus dem Schnee unter dem Stamm lugten Gartenzwerge in den Ausführungen mit Pfeife, mit Schubkarre und mit Spaten hervor, die roten Füßchen hatte der schelmisch lächelnde Zwerg auf das Blatt gestützt. Über der Eingangstür eines jeden Hauses steckten zwei Fahnen: rechts die Fahne der Republik, links die der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. Auch dies hatte sich nicht verändert, auch dies war ihm aus der Zeit mit Hanna vertraut. Neu war etwas anderes. Er blieb einen Augenblick stehen und lauschte. Gedämpftes vielstimmiges Bellen drang an sein Ohr, ging nach wenigen Sekunden in lautes Heulen über. Schon am Oberen Plan, als er die Soldaten beobachtet hatte, war ihm dieses Geräusch aufgefallen; die einfahrende Schmalspurbahn hatte es überdeckt. Es klang wie der Anschlag junger Hunde; aber er war sich nicht sicher. Als er den Hügelkamm erreichte, konnte er fast das gesamte Viertel übersehen: das »Haus der Kultur« mit der wuchtigen Plastik »Aufrechte Kämpfer« davor, die ihre granitenen Fäuste in den Morgen reckten; die mit Sandsteinplatten gepflasterte, von Pylonen gesäumte Allee, die vom »Haus der Kultur« in den Engelsweg mündete, eine kastanienbestandene Sackgasse, wo sich eine HO, eine Drogerie, ein Blumenladen und ein Elektrogeschäft befanden, in denen die Hausfrauen Ostroms einkauften; außerdem ein Damen-

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