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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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närrisch bin ich vor Glück; ich muß es mitvollen Händen austeilen, sonst zerreißt es mich! So stellte er es sich vor. Mein Gott, bin ich wirklich so naiv, dachte Richard, das ist doch nicht möglich. Könnte ich ihr das wirklich antun? – Du hast es ihr schon angetan, hörte er sich. Du hast es ihr schon angetan.

15.
Wer hat den schönsten Tannenbaum
    Rektor Scheffler war anzumerken, daß er nicht genau wußte, welchen Kurs er vorgeben sollte: Einerseits war Genosse Leonid Iljitsch gestorben, kaum zwei Monate war es her, und das große Schiff Sozialismus trieb führerlos dahin. Andererseits näherte sich das Weihnachtsfest – und jede Einschränkung, die eine bestimmte Grenze überschritt, würde nicht als Pietät, sondern als Schwäche, als Eingeständnis und Ausdruck einer Lähmung, aufgefaßt werden. Richard ließ den Blick durch das Rektoratszimmer schweifen, Breshnews Gorilla-Gesicht mit den verschlagen blickenden, tiefliegenden Äuglein unter Flaschenbürstenbrauen, der schwarze Streifen in der Ecke der Fotografie, daneben der Genosse Staatsratsvorsitzende im grauen Anzug vor himmelblauem Hintergrund, ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen; dann die Reihe von Schefflers Vorgängern.
    »Sie lehnen meine Vorlesung also ab.«
    »Herr Hoffmann, bitte.« Scheffler machte eine unwillige Bewegung. »Haben Sie doch Verständnis für meine Lage. Genug, daß nun wieder dieser alberne Weihnachtsbaumkrieg beginnt!«
    »Wir haben kaum noch Schmerzmittel, Genosse Rektor.«
    »Ja, ich weiß. Heute morgen war der Apotheker bei mir. Herr Hoffmann, ich bitte Sie um eins – keine Panik. Wir werden Abhilfe schaffen. Noch heute habe ich einen Termin bei Barsano. Seine Frau wird dabeisein. Ich werde darum ersuchen, daß das Friedrich Wolf uns hilft.« Das hatte dieses Krankenhaus noch nie getan, Scheffler wußte es, Richard wußte es. »Keine Panik, das ist jetzt das wichtigste. Es gibt schon genug Gerüchte. Und es bleibt bitte unter uns, was wir besprochen haben.«

    Wernstein sagte, als Richard und er sich vor den OP-Sälen die Hände wuschen: »Die von der Inneren sollen einen schönen Tannenbaum gefunden haben!«
    »Und unserer?«
    »Die Oberschwester ist auf dem Striezelmarkt gewesen, beim Tannenbaumverkauf. Nur Lahme, Krumme und Versehrte.«
    Damit drohte die Chirurgische Klinik den Prestigewettstreit um den schönsten Tannenbaum zu verlieren, und das ausgerechnet gegen die Innere Medizin! Das durfte nicht sein, wurde in einer eigens angesetzten Konferenz beschlossen. In der Orthopädie hatte Wernstein ein rachitisches Exemplar entdeckt, wahrscheinlich in märkischer Sanddürre großgeworden; in der Augenklinik ein wohlproportioniertes, anmutiges, doch kaum fünf Dioptrien hohes Exemplar; in der Urologie eine ungeschlachte Douglasfichte, unten drei Meter breit, aber nur zweifünfzig hoch, und außerdem endete sie in einem Quirl aus drei Zweigen. Die Neurologie trat mit einem Exemplar vom Striezelmarkt an, es war unten einen Meter breit und dreifünfzig hoch, schmal, spröde und reizbar, denn es hatte sofort genadelt und bis jetzt nicht damit aufgehört.
    Abends ging Richard in den Planetenweg. Kühnast hatte zu Hause kein Telefon, und der Pförtner im Arzneimittelwerk hatte nicht durchstellen können. Richard hatte im Tausendaugenhaus angerufen und Alois Lange gebeten, dem Chemiker einen Zettel an die Tür zu stecken. Für diese Art Nachrichten gab es überall im Viertel Zettelkästen an den Türen, daneben Bleistifte an Bindfäden. Bitte klopfen, Klingel defekt, stand unter Kühnasts Schild.
    »Ah, Herr Hoffmann, kommen Sie ’rein. Hab’ Herrn Langes Zettel gelesen. – Nein, nein, Schuhe können Sie anlassen. Bitte hier entlang.« Sie gingen ins Wohnzimmer, an Bücherschäften vorbei, zwischen denen Gas- und Stromzähler tickten. Glasschlifftüren, Wasserflecken an der Flurdecke, feine Risse, abblätternder Stuck. »Meine Frau hat ein paar Schnittchen zurechtgemacht.« Kühnast wies auf ein Tablett. »Was trinken Sie?«
    »Einen Ihrer Liköre, wenn’s erlaubt ist.«
    Über Kühnasts Gesicht zuckte Freude. »Naja, wir sind noch imVersuchsstadium. Hat sich das …«, der Chemiker rückte seine mit Heftpflaster geflickte Brille zurecht, »bis zu Ihnen herumgesprochen? Ich kann Pfirsich empfehlen.« Kühnast schenkte ein, beobachtete Richard, der das Glas mit der in wildem Abendrot gehaltenen Flüssigkeit kippte. »Stark.«
    »Nicht wahr?« Der Chemiker setzte sich, schlug ein Bein übers andere. »Also. Was kann

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