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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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fragte, wie lange sie die Schmerzen schon habe, was sie gegessen habe, wie die Verdauung sei. Josta winkte behutsam ab. »Das hat sie öfters.« Richard küßte Lucies Bauch, zog sie wieder an. Die Kleine lachte. »Besser, Papa.«
    »Na, siehst du.«
    »Willst du sehen, was ich für dich gemalt hab’?«
    »Zeig!«
    Es war ein Blatt voller Zahlen. Sie hatten Arme und Beine, fröhliche und traurige Gesichter, eine Sieben trug einen Hut, eine Fünf mit dickem Bauch rauchte Zigarre und hielt eine kleine pummelige, schafsartige Acht, die Dackelohren hatte, an der Leine.
    »Schön! Das hast du fein gemalt. Das ist für mich?«
    »Weil du Geburtstag hast.«
    »Wie kommst du denn auf die Zahlen?«
    »Die hab’ ich gesehen! Wenn Mama mich in den Kindergarten bringt, kommen wir immer an einer Sieben vorbei!«
    Josta lachte. »Es ist ein Plakat zum siebenten Oktober. Im Kindergarten lernen sie jetzt Zahlen, deswegen.«
    »Und bleibst du jetzt da, Papa?«
    Richard wandte sich von dem hellen, zu ihm so vertrauensvoll aufschauenden Gesichtchen ab, es tat ihm weh, und alle Düsternis, die Lucies Anblick vertrieben hatte, kehrte zurück. »Heute nicht.«
    Richard ging. Josta stand am Fenster und antwortete nicht auf seinen Abschiedsgruß.
    Er stieg im Dunkeln die Treppe hinab. Es schien nicht nur seine Augen zu schärfen, auch die Gerüche und Geräusche meinte er intensiver wahrzunehmen als vor einer halben Stunde, als er die Treppe hinaufgestiegen war. Aschegeruch, klamme Wäsche, unausgelüftete Betten, Feuchtigkeit und Schimmel im schadhaften Mauerwerk, Kartoffelsuppe. Aus einer Wohnung in der zweiten Etage – Josta wohnte in der vierten, unter dem Dach – drangen laute Stimmen, Geschrei, Gekeif, das Klirren von Geschirr. Frau Freese im Hochparterre, der ehemaligen Blockwartswohnung, mußte ihn gehört haben, denn er bemerkte schon auf dem eine halbe Treppe höher liegenden Absatz, wo eine Außentoiletteoffenstand und penetrant nach »Ata« roch, daß der Spion geöffnet war: eine gelbe Lichtnadel stach ins Flurdunkel und verschwand sofort, als er sich, auf Zehenspitzen, vorbeischleichen wollte – entweder hatte Frau Freese den Spion verschlossen oder gierig ihre Gluckenaugen ganz nah an die Öffnung gepreßt.
    Die Haustür klappte hinter ihm ins Schloß. Die Luft war kalt wie Eisen. Er ging zur Rehefelder Straße und schlug den Weg zum Sachsenbad ein. Dort hatte er seine Schwimmutensilien deponiert, der Bademeister kannte ihn als Stammgast und hatte ihm sogar, als Gegenleistung für ein Attest, das ihn vor dem Reservistenwehrdienst bewahrte, einen Schlüssel angeboten, falls er einmal später zum Schwimmen kommen wollte oder noch zu viele andere Gäste ihre Bahnen zogen. Daß er an jedem Donnerstag, wenn er keinen Dienst hatte, nach der Arbeit dorthin zum Schwimmen ging, war sein Alibi gegenüber Anne und den Jungen. Anne hatte es akzeptiert, daß er einmal in der Woche einige Stunden für sich beanspruchte und auf alle Vorschläge, sie gemeinsam zu nutzen, mit entschiedener Abwehr reagierte. Anne, das fühlte er, würde ihm nicht nachspionieren. Richard fürchtete die Jungen, am ehesten Robert. Christian war jetzt die Woche über in der EOS, da war es unwahrscheinlich, ihm hier zu begegnen. Außerdem neigte er zum Stubenhocken. Anders Robert. Der war unternehmungslustig, fand nichts dabei, mit Kumpanen kreuz und quer durch Dresden zu fahren, sich in S-Bahnen oder Vorortzüge zu setzen und der verblüfften Anne von seinem Taschengeld Brot und frische Semmeln von einem Meißner Bäcker mitzubringen. Außerdem schwamm er so gern wie er, Richard, und in Dresden gab es nicht viele Hallenbäder. Auch glaubte er, daß Robert ihn manchmal beobachtete, ihn skeptisch musterte an diesen Donnerstagen, wenn er vom Schwimmen nach Hause kam. Sah er Gespenster? Er hatte sich den raschen, nach allen Seiten sichernden Gang eines scheuen, sich beobachtet fühlenden Menschen angewöhnt. Nicht nur Anne und seine Jungen mußte er fürchten, es mochte Bekannte geben, von denen er nichts ahnte – womöglich war Frau Freese die Tante oder Großmutter eines von Roberts Kumpanen? Oder des Jungen, mit dem sich Daniel geprügelt hatte … Der Zufall, der »dumme« noch dazu, wie man sagte, liebte solche tückischenBegegnungen. Oder einer seiner Arbeitskollegen, eine Krankenschwester oder Physiotherapeutin, die in dieser Gegend wohnen mochten, sah ihn, wunderte sich, was Oberarzt Hoffmann zu dieser Stunde im Haus zu suchen hatte, in dem Frau Josta

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