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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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nicht zu Busses Hund tragen. Als vom Soldaten nichts mehr zu sehen war, gab Richard ein Zeichen; Wernstein blieb zurück. Im Wegschatten huschten Dreyssiger und er auf den Zaun zu, Richard prüfte die Spannung des Drahtes und schnitt ihn nahezu geräuschlos auf. Kriminell! dachte er. Aber die Fichte muß durchpassen. Hoffentlich ist der Schnitt nicht zu sehen, und hoffentlich macht der uniformierte Depp nicht gerade hier seine Lampe an, wenn er wiederkommt. Sie krochen in die Schonung, richteten sich in den dicht stehenden Bäumen mühsam auf. Sie hängten die Weihnachtsmannmäntel an einen Ast – die würden drinnen doch nur hinderlich sein und zerreißen – und arbeiteten sich vorsichtig zur Mitte der Schonung vor. Dort standen die Bäume lichter. An jedem baumelte ein weißes Viereck. Dreyssiger schirmte seine Taschenlampe ab, leuchtete behutsam. Auf den Schildern standen Namen, sämtlich von hohen Parteifunktionären; die schönste Blaufichte war mit dem Namen »Barsano« gekennzeichnet. Sie war etwa drei Meter hoch und vollkommen ebenmäßig gewachsen.

    Die Krankenschwestern der Nord I öffneten die letzten Schmerzmittel-Chargen. Herr Kühnast hatte prinzipiell Verständnis für Richards Lage. »Wir könnten eine Sonderschicht fahren. Das Problem ist, ich habe keine Arbeitskräfte. Und es geht nur sonnabends, da sind unsere hohen Tiere nie da.«
    Richard trommelte seine Studenten zusammen und beraumte einen Subbotnik im Arzneimittelwerk an. Er liebte solche Exkursionen. Die Studenten, war seine Meinung als Hochschullehrer, mußten wissen, wo sie studierten, was sie studierten und warum sie studierten. Einst war Deutschland die Apotheke der Welt gewesen, und Dresden die Wiege der Pharmakologie. Das Arzneimittelwerk, hervorgegangen aus den Firmen Madaus, Gehe und der Chemischen Fabrik von Heyden, in der die Acetylsalicylsäure – Grundstoff für Aspirin, das meistverkaufte Medikament der Welt – erstmalig industriell hergestellt worden war, hatte seinen Hauptstandort in der Leipziger Straße, in der ehemaligen Drogen- und Appreturanstalt der Firma Gehe. Dachrinnen hingen verbogen, die Fenster trugen Aschekrawatten, das Lächeln der Bestarbeiter auf den Fotos an der Werksstraße war von Schwefelkrebs zerfressen, ebenso die Kreideaufschrift »Hilfsarbeiter aller Art« auf der Tafel »Wir stellen ein«, die am Pförtnerhäuschen hing.

    »Psst!« Dreyssiger hob die Hand. Sie hörten das Knacken im Unterholz und wieselten sofort in Deckung.
    »Sieh mal einer an, das ist ja der Magenstock!« Richard duckte sich. »Höchstpersönlich mit einem seiner Söhne!«
    Diese beiden schlichen zielstrebig auf die schönste Blaufichte zu, lauschten einige Sekunden, die Richard und Dreyssiger sprachlos verbrachten, und begannen zu sägen. Richard überlegte: Sollten sie aufspringen und sagen: Halt, wir waren zuerst da!? Dreyssiger tat es schon und ging mit weitausgreifenden Schritten auf Pfarrer Magenstock zu. »Wer sind Sie«, ächzte der Pfarrer. Dreyssiger leuchtete die Gesichter ab. Sie waren schwarz geschminkt, eine Art Indianer-Kriegsbemalung. »Wir waren zuerst da!« Dreyssiger hatte Mühe, seinen Zorn zu dämpfen.
    »Oh … Herr Hoffmann«, murmelte Magenstock, wobei er sich ans Herz griff, »Sie haben sich also nicht ohne Hintergedanken bei mir erkundigt.«
    Richard mahnte Dreyssiger mit einer Handbewegung, die Lampe auszuschalten. Die vier Männer lauschten beklommen. Es war nichts zu hören außer Baumgeflüster.
    »Herr Hoffmann, Sie … verfolgen die Interessen einer Klinik?«Pfarrer Magenstock atmete mühsam. »Sehen Sie, ich verfolge die Interessen meines Glaubens. Der Brauch stammt aus dem Mutterschoß der Christenheit!«
    In diesem Augenblick ertönte Wernsteins Warn-Schuhu. Die Männer rappelten sich auf. Magenstock und sein Sohn rannten zu Barsanos Fichte und vollendeten in rasendem Ritschratsch ihr Säge-Werk. Ein Hund schlug an. »Los, verduften!« krächzte Pfarrer Magenstock mit bemerkenswerter Kaltschnäuzigkeit. Dreyssiger schnappte sich die Zimmermannssäge, Richard hatte in der Panik den Bolzenschneider liegengelassen. Schon sah man Taschenlampenlicht durch das Astwerk junger Fichten schwanken. Die vier brachen ohne Rücksicht durch das Unterholz. »Stehenbleiben, halt!« und »Rudo, faß!« schrie es hinter ihnen. Magenstock klatschten die von seinem voranpreschenden Sohn umgebogenen Zweige ins Gesicht. Der Hund bellte, dazwischen Wernsteins pausenlose Schuhu-Rufe; wie sinnlos, dachte Richard, es

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