Der Turm
Josta heiter, hob seine Hand und biß kräftig in den Handballen.
»Hör auf, das tut weh!« Sie biß noch kräftiger zu, riß seinen Gürtel auf.
»Daniel«, murmelte er.
»Beim Fußball. Er weiß, daß du da bist. Zur Zeit hat er kein großes Bedürfnis, dich zu sehen. Im Gegensatz zu mir.«
»Wo ist Lucie«, flüsterte er, als Josta sich hinkniete.
»Keine Sorge. Dein Augenstern schläft, tief und fest.«
Er beobachtete die Bißspur an seinem Handballen, die dunkelroten, tief eingekerbten Male. Das Begehren, das so jäh aufgeflammt war, erlosch, als er durch die Korridortür ins Wohnzimmer blickte, wo der Fernseher lief, den er Josta durch Beziehungen verschafft hatte. Unmut und plötzlicher Ekel packten ihn, als er den Gaszähler in der Flurecke hinter der Schiebetür zur Küche sah, und neben dem Schlüsselhecht an der Wand auf einem Bord die beiden innig lächelnden Puppen, die ihre Hände zu einer sanften Geste ausgestreckt hielten. Josta stand auf, umarmte ihn, schwieg. Er öffnete den seitlich abstehenden Pferdeschwanz, der in seiner Keckheit und Eigenwilligkeit schon bei ihrer ersten Begegnung im Kopierbüro der Akademie, das Josta leitete, Richards Witterung geweckt hatte.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte sie leise.
»Fünfzig Jahre, meine Güte.«
»Für mich bist du jünger als mancher Dreißigjährige.« Sie gingen ins Wohnzimmer. Richard stellte den Fernseher ab. Es gehörte zu Jostas Eigenheiten, ihn laufenzulassen auch dann, wenn sie sich unterhielten.
»Ich habe gar nichts für dich. Außer mir selber«, sagte sie, zugleich verstohlen und kokett. »Du hast mir ja verboten, dir etwas zu schenken.«
»Eine Krawatte, die ich mir angeblich selbst gekauft habe? Parfum?« Richard lächelte sarkastisch. »Ich kann es nicht mitnehmen.«
»Du könntest es hierlassen.«
Er sah auf. Ein leichter Unterton von Bitterkeit in ihrer Antwort verriet ihm, daß sie ihn wieder herauszufordern versuchte.
»Josta …«
»Ich weiß, deine Familie. Ach, komm mir doch nicht immer mit deiner Familie! Auch hier ist deine Familie, genausogut wie dort! Hier ist deine Tochter, hier ist dein Sohn –«
»Daniel ist nicht mein Sohn.«
Josta trat auf ihn zu, verzog den Mund zu einer höhnischen Grimasse. »Ja, er ist nicht dein Sohn. Aber er sagt Papa zu dir.«
»Er verachtet mich! Ich spüre es doch, wie er sofort auf Abwehr schaltet, wenn ich da bin und eine Annäherung suche!«
»Nein, er verachtet dich nicht! Er liebt dich …«
»Was?«
»Ich weiß das, so etwas fühle ich, so gut kenne ich ihn doch! Das Taschenmesser, das du ihm mitgebracht hast, hält er heilig, neulich hat er eine Prügelei deinetwegen angefangen, weil die Mutter irgendeines Schulkameraden bei euch gelegen hat und angeblich schlecht behandelt worden ist, und angeblich auf deiner Station … Er wird zwölf …« Josta wandte sich ab. »Ich habe mich so auf deinen Besuch gefreut … Du bist es, der abweisend ist, nicht Daniel!«
Richard trat ans Fenster. Dieser graue Himmel über der Vorstadt, und gegenüber Mietskasernen mit Strohrädern und steif im Wind flatternder, trauriger Wäsche … Unten ein eingezäunter, von Laternen beschienener Spielplatz, wo dick eingemummte Mütter auf blasse Kinder aufpaßten, die mit Zündblättchenpistolen aufeinander losknallten. Den Drahtzaun des Spielplatzes säumten übervolle Mülltonnen, den Schnee um sie herum färbten Aschehaufen, die man aus Platzmangel einfach neben die Mülltonnen gekippt hatte. »Ich kann Weihnachten nicht kommen.«
»Nein, natürlich nicht.« Josta verkrampfte die Lippen zu einem mißglückten Lächeln. »Lucie hat dir aber ein Geschenk gemacht. Ihr kannst du es nicht verbieten. Übrigens ist sie nun doch munter.« Lucie kam herein, einen Stoffbären im Arm. Ihr Haar war zerstruwwelt, sie sah blaß und müde aus. Als sie Richard sah, lief sie ohne ein Wort zu sagen auf ihn zu. Er kniete sich hin, sie schlang ihre Ärmchen um seinen Hals, und diese Geste machte ihn plötzlich ganz leicht und frei, es war ihm, als hätte Lucies Umarmung die Bedrückung, die er schon auf dem Weg zu Josta gespürt hatte, zerbrochen.
»Bauchschmerzen«, sagte sie. »Papa, mach’ meine Bauchschmerzen weg.«
»Meine Kleine.« Er streichelte und küßte sie. »Meine Kleine, hast Bauchschmerzen … Mal sehen.« Sie legte sich hin, Richard tastete vorsichtig ihren Bauch ab. Die Bauchdecke war weich, esgab keinen Schmerzpunkt, auch Temperatur hatte Lucie nicht. Nichts Ernstes. Er
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