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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Fischer, die geschiedene und attraktive Sekretärin im Rektorat der Medizinischen Akademie, allein mit zwei Kindern eine Zweieinhalbzimmerwohnung unter dem Dach bewohnte, schon das war verdächtig bei der berüchtigten Wohnungsnot … Und er konnte sich nicht sicher sein, ob Josta ihren Teil der Abmachung mit der gleichen konsequenten Strenge, der immerwährenden, nie nachlassenden Vorsicht einhielt wie er … Gab es Fragen, Lucies wegen? Hielt Daniel den Mund? Er fühlte sich elend und hätte viel darum gegeben, aus den Lügen herauszukommen. Vor fünf Jahren hatte er versucht, die Affäre mit Josta zu beenden, dann aber war die Schwangerschaft gekommen, er hatte Josta spontan zur Abtreibung geraten, aber sie hatte sich kategorisch geweigert, ihm gegenüber das Wort Mörder gebraucht. Willst du ein Mörder sein an deinem Kind? Noch jetzt schauderte es ihn vor diesem Vorwurf. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Weniger eine Schwangerschaftsunterbrechung gemacht, das Feld »Kindesvater« in der Anamnese wäre leer geblieben. Seine Lucie, seine Tochter, die er über alles liebte! Richard lehnte sich an eine Mauer. Was ist aus mir geworden …! Ein Lump und Betrüger, der jeden Donnerstag durch die Straßen schleicht, gefangen in einem Netz aus Falschheit, Schwindeleien, Boshaftigkeit … Manchmal konnte er Anne nicht mehr in die Augen sehen, manchmal quälte ihn Angst, wenn er Meno oder Ulrich traf, die ihn als ihren Schwager begrüßten … Was würden sie von ihm denken, wenn es herauskäme? Daß er ein Schwein war sicherlich, eine nichtswürdige Figur … Die nicht loskam von Josta. Wenn ihre Augen wie vorhin funkelten, sie das Haar herausfordernd zurückwarf, schon wenn sie diesen seitlichen Pferdeschwanz trug, der für andere nichts weiter als ein flippiges Detail sein mochte – ihn erregte es bis zum Atemverschlagen, hatte es erregt, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, damals, als er Vorlesungstyposkripte zum Hektographieren in das Büro brachte. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt und in der Blüte ihrer Weiblichkeit gewesen. Sie war sich ihrer bewußt und setzte sie ein. Nicht wieein Mädchen, das kokettieren will, aber noch nicht recht weiß, was daraus werden soll, weil es das andere Geschlecht und sich selbst noch nicht recht kennt. Sondern wie eine reife, erfahrene Frau, und wenn man allein mit ihr im Zimmer war, herrschte knisternde Spannung – ihm fielen dann jedesmal jene Plaststäbe ein, die der Lehrer im Physikunterricht mit einem Tuch rieb und die man nicht berühren konnte, ohne einen elektrischen Schlag zu bekommen. Wenn er mit ihr schlief, fühlte er sich jung, es gab nicht die Tristesse danach, die ihn bei anderen Frauen befallen hatte. Sie packte ihn und wimmerte und schrie, trieb ihn zu Leistungen, die er kaum als Dreißigjähriger vollbracht hatte. Josta war unersättlich und machte kein Hehl aus ihrem sexuellen Appetit und der Lust, die sie empfand. Alles an ihr war heftig: ihre körperlichen Reaktionen, ihr Verlangen, wenn es einmal entfacht war – manchmal dachte er, daß es einem Faß Pulver gliche, und wenn man an ihr vorüberging, genügte schon das bißchen Reibung, es zu entzünden –, ihre Wut, ihre Muskulatur, ihre Ansprüche und ihr Haß. Blindwut, rasendes Begehren, besinnungsloses, von ihrer Hexenglut (so nannte er es bei sich) bis ins letzte heimgesuchtes Versprengen: so hatte er Lucie gezeugt, in Sekunden unvorstellbaren Glücks. Seine Tochter! Er dachte an ihr Haar, die großen braunen Augen, die ihn so fragend und klug ansahen, die ruhige, aufmerksame Anstelligkeit des Kindes, seine unaufdringliche Neugier und rührende Phantasie. Ein Bild mit Zahlen hatte sie ihm geschenkt, die Augen, Ohren und Kleider hatten, Zahlen, »die hab’ ich gesehen, wir kommen immer an einer Sieben vorbei!« Er hatte das Blatt bei Josta gelassen, aber es war sein schönstes Geburtstagsgeschenk. Am liebsten hätte er es mitgenommen und jedem gezeigt! Manchmal hatte er das Bedürfnis, das Mädchen mit nach Hause zu Anne zu nehmen, sie ihr stolz zu präsentieren und zu sagen: Ist sie nicht herrlich? Mein Töchterchen Lucie! Einfach damit Anne sich mit ihm freute, dieses beschwingende Gefühl mit ihm teilte, damit er ihr abgeben konnte davon und es nicht egoistisch für sich behielt. Weißt du, was für ein großes Glück es in meinem Leben gibt, von dem du noch keine Ahnung hast, komm her und sieh es dir an, es heißt Lucie, Lucie, ich kann es nicht für mich behalten, gleich platze ich, so

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