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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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weil er nicht unsere Wohnung gekriegt hat! Jaja, Herr Hoffmann, wir heizen ja immer für Sie mit«, ahmte Richard die Laubsägestimme Doktor Griesels nach. »Dafür stellt er seinen Trabbi dauernd auf meinen Parkplatz!«
    Poch, poch, klopfte des Nachbarn Hagerknöchel auf die Kladde mit Griesels Technikerschrift-Eintragungen. »Ich bin nun einmal der Hausverwalter und verpflichtet, dieses Buch zu führen! Die angegebene Besuchszeit ist überschritten worden. Und du hast letztens Keller- und Haustür offengelassen, sämtliche Katzenviecher der Umgebung haben in den Streusand geschissen,beim nächsten Mal polkst du das selber raus! Und wir heizen nicht für die Katz, klar?«
    Von der vorweihnachtlichen Schläfrigkeit war in der EOS nichts mehr zu spüren. Gesumm, Anspannung, hektische Aktivität waren zurückgekehrt. Treppauf, treppab schwirrten Vokabeln und Merksätze durch den Neubau, der neben der Stammschule, einem Betonklotz für fast eintausend Schüler, hell und licht wirkte. Auf den Fluren dämpfte PVC das Geräusch von hundert Paar Hausschuhen – Waldbrunn war die kleinste EOS der DDR – zu weichem Schlurren. Maxim Gorkis Augen glitzerten auf einem Foto in der Schauvitrine im ersten Stock, darunter lag eine Trompete, ein Pionierhalstuch, die Kopie eines Briefs von Maxim Gorki an die Jugend, ein Gruß der Wismut-Kumpel an die neugegründete EOS und, davor blieben viele Schüler stehen, ein Achat, dessen Flammung von Milchringen und Feuerblumen durchsetzt war. Er stammte aus den Fundstätten von Schlottwitz, das von Waldbrunn nicht weit entfernt lag.
    Der Unterricht bei Herrn Baumann hatte sich für Christian als das Fiasko erwiesen, das er von Anfang an befürchtet hatte. »Na, Christian, denken wir mal wieder?« sagte Herr Baumann verständnisvoll, das Apfelbäckchengesicht unter der Gelehrtenstirn von Heiterwetterfältchen durchzogen, wenn Christian über einer der Aufgaben nach folgendem Muster brütete: Berechnen Sie, wo A und B sich treffen, wenn A mit der Geschwindigkeit x und Betonplatten der Größe α; B mit der Geschwindigkeit y und Betonplatten der Größe β eine Straße aufeinander zu bauen! Christian fluchte jedesmal. Der Teufel sollte diese Aufgaben holen! Der Teufel sollte die ganze Mathematik und ihre fünf Wochenstunden holen! Was, wenn B soff und die Straße von der vorgegebenen Linie abwich … Natürlich, in der Mathematik wurde nicht gesoffen.
    »Denken wir mal wieder?« Baumann lächelte still und hielt von keinem einzigen Schüler der eifrig kritzelnden Klasse mehr, als nötig war. »Ich gebe Ihnen eine Zwo, Swetlana«, hatte er letztens gesagt, als Swetlana Lehmann an die Tafel mußte, wo sie, verdeckt hinter einem Klappflügel, eine Vektorrechnung bekämpfte. »Ich gebe sie Ihnen, weil ich muß. Eine Zwo bedeutet: gut. Also heißt das, daß Sie gut in Mathe sind. Na, setz’ dich mal wieder.Wißt ihr, wer gut in Mathe war? Der René Gruber, der war gut in Mathe.« Und damit hatte Baumann die Achseln gezuckt und sanft: »Na, da wollen wir mal die Hefter unter den Tisch legen und ein Blatt Papier rausnehmen«, in die schreckstarre Klasse hinein verkündet; nur Verena hatte glänzende Augen bekommen. Ja, auch sie war gut in Mathe. Wenn sie Aufgaben löste, lächelte Herr Baumann nicht, und wenn sie vorn an der Tafel einen neuen Lösungsweg fand und mitten in einem Gestrüpp aus Formeln und unfaßbar kompliziert aussehenden Haken und Integralschleifen hilfesuchend zu Herrn Baumann blickte, der sich auf die Kante eines der vorderen Tische gesetzt hatte und mit verschränkten Armen folgte, die blauen Irisringe jetzt ohne Sanftmut, sondern wie zwei Metallscheiben, antwortete er: »Das war recht elegant, was du da versuchen wolltest, Verena, aber, schau mal hier«, nahm ein Stück rote Kreide und zifferte mit seiner Kupferstecherschrift in die Lücken von Verenas stacheligen Zeilen. Es gab nur zwei Schüler, die er immer duzte – Verena, und Heike Fieber, die neben Jens Ansorge am vordersten Tisch der Fensterreihe saß und in den Mathematikstunden das sommersprossige Gesicht in die Sonne hielt, die über den Berg mit der Fernverkehrsstraße in den Klassenraum tröpfelte. »Na, Heike, bißchen träumen? Oder zählst du LKW?« fragte Baumann dann, wie ein liebenswürdiger Großvater seine kleine Enkelin fragt. »Der René Gruber, der hätte aus dem Fenster gucken können. Aber, weißt du, das hat er nicht gemacht«, sagte Baumann. Über René Gruber sprach man eigentlich nicht auf der EOS

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