Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
Staatsbürgerkundeunterricht; und auch er mußte nun Weichen stellen, in Richtung auf eine Niederschrift seiner Gedanken nämlich … Irgendwie. Aber was für Gedanken? Sollte er sein Staunen über den in der Zimmerecke endenden Geschichtspfeil schildern? Oder die zweite Assoziation zum Wort »weichen«, nämlich eine überreife Birne aus Großvaters Garten in Glashütte? Glich die Geschichte dem Obst, hing sie als stolze, schwersaftige Birnenfrucht vor den Augen der nach Wasser und Süßigkeit lechzenden Menschheit? Man konnte feinen Obstschnaps aus solchen Birnen brauen … War der Sozialismus also die Birne und der Kommunismus der daraus gekelterte Obstbrand? Obstbrand für alle. Und am nächsten Morgen der Kater …? War das die Gesetzmäßigkeit? Die Birne reift, Schädlinge benagen und höhlen sie, Würmer hinterlassen eine kapitalistisch-parasitäre Afterspur, dann jedoch … Wer aß,mußte aufs Klo, das war auch eine Gesetzmäßigkeit. Marxscher Geschichtsbegriff. Christian blickte hilfesuchend auf, aber er saß allein und konnte bei niemandem spicken. Herr Schnürchel hockte mit übereinandergelegten Füßen am Lehrerpult, hielt die Arme unters Kinn gestützt und kippelte, sein Basiliskenblick fixierte Verena. Verena schrieb nicht. Sie schien keine Pause zu machen oder einem Gedanken nachzuhängen, den ein Füllfederhalter in einigen Sekunden festhalten würde. Verena starrte aus dem Fenster. Soweit Christian erkennen konnte, war das Blatt vor Verena weiß. Reina Kossmann, ihre Nachbarin, schielte irritiert zu ihr hinüber. Verena schrieb nicht. Als es zur Pause klingelte, hatte Christian vier Seiten aus der Schatzkammer der Phrasen geschöpft. Verena hatte ein leeres Blatt abgegeben.

17.
Ferngespräche
    Der Frühling war still gekommen, hatte mit bleichen Sonnenfingern den Schnee entlang der F 170 fortgewischt, so daß die Felder bei Possendorf und Karsdorf mit schmutzigen Laken bedeckt zu sein schienen. Noch gab es Kältetage, aber sie froren die Niederlagen des Winters ein; der Schnee war krank, unter dem Harsch tropfte, sinterte, sickerte es, bildeten sich Wasserdrusen, quecksilberten, leckten Stege dünn zwischen Firnhöhlen, suchten einander, fanden einander, flochten Rinnsale. Eiszapfen hingen vom Dach des Schulgebäudes wie zum Trocknen aufgereihte gläserne Aale, Tropfen tockten, plingten und klockten in melodischem Wechsel; Jens Ansorge hätte das gern aufgenommen und zu einem »Tauwettersong« verarbeitet. Er dachte an etwas Ähnliches wie Tomitas Musik zu Modest Mussorgskis »Bilder einer Ausstellung«, die der japanische Klangkünstler in der Hexenküche seines Synthesizer-Labors bearbeitet und bei »Amiga« veröffentlicht hatte. Wie wurde Jens um den Besitz dieser Schallplatte beneidet! Sie war frisch erschienen, und in keinem Plattengeschäft weit und breit gab es sie zu kaufen, nicht einmal im »Philharmonia«. Der Inhaber, Herr Trüpel, hatte Christians Frage vorweggenommen und schon beim »Klong« seinerLadenglocke geantwortet, daß »die Scheibe von Herrn To-mitta« nicht mehr vorrätig sei, nicht einmal »für die Frieks«. Und dabei hatte er Christian leer aus seinen blauen Augen angesehen, die von einer Brille mit runden Gläsern und Goldrand stark vergrößert wurden. Auch nicht unter dem Ladentisch? Das war eher eine Anwandlung von Naivität als Frechheit; Herr Trüpel hob nur die linke Braue, zögerte einen Moment, bevor er unter dem Ladentisch nachschaute, sich wieder kerzengerade aufrichtete und »Nein« antwortete. Man mußte sich mit Kassetten behelfen, Herr Trüpel legte wortlos eine vor Christian hin. »Die genügt.« Und kassierte EVP M 20, für eine Magnettonbandkassette aus dem Hause ORWO.
    Tauwetter im Erzgebirge. Das Grau der Schindeldächer in den Dörfern kam wie eine steinerne Haut zum Vorschein, alt und abgearbeitet, stumpf geworden unter den Schlägen von Wind und Wetter. Die Luft verlor den metallischen Geruch des Schnees. In den höhergelegenen Orten wurden die Straßen zeitweilig unpassierbar, unterspült von reißend gewordenen Bergbächen. Die Rinde der Obstbäume an den Feldwegen wurde schwarz von Taunässe und glänzend; wie krummgearbeitete Bauersfrauen standen die Bäume am Windberg und der Quohrener Kipse.
    Wenn die Klasse dienstags, in der Biologie-Doppelstunde, mit Dr. Frank eine Exkursion unternahm, hielt sich Christian von seinen Internatsnachbarn fern, um Gesprächen auszuweichen. Er nahm die Eindrücke mit wachen Sinnen auf: Dies war die Landschaft

Weitere Kostenlose Bücher