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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Schulflure und Internat, streifte sich mit genußreicher Akribie die Staubhandschuhe über und förderte mit betrübter Miene Dreck hervor, monierte Christians Schwarzweißkalender und Jens Ansorges Magnettonbänder mit verdächtig unsichtbarer Musik – Christian wußte, daß Jens Neue Deutsche Welle hörte –, andererseits wollte Schnürchel von den Sprach-Schlaffheiten früherer Russischunterrichtstage nichts wissen, kam zu jeder Stunde mit randvoller Vokabelkiepe und schüttete sie den bedrängten Schülern vor die »Heiko«-Füllfederhalter. Christian reizte diese zweite Seite Schnürchels; sein Ehrgeiz war gepackt. Jeden Morgen, Russisch lag in derRegel in der ersten oder zweiten Stunde, ließ er seinen Blick über die brandig rasierten Wangen Schnürchels wandern, die Rennpferdnüstern der schmalen Nase, die an der Spitze in eine rote Kugel auslief; über das schwarze Haar, das Schnürchel mit Zuckerwasser glättete; ein Scheitel, exakt wie eine Aktenkante, teilte es. Herr Schnürchel saß sprungbereit am Pult, die Augen waren weit aufgerissen für einen Blick, dessen Durchbohrungskraft zu hart war für die Siebenuhr-Morgenstunde und sogar Swetlana Lehmann die Augen niederschlagen ließ. Herr Schnürchel trug »Präsent 20«-Anzüge mit Bügelfaltenklingen, Hemden und Krawatten in Zoofarben, an denen stets ein Abzeichen steckte, ein Flammenwimpel mit Hammer und Sichel darauf. Beim Sitzen legte er den rechten Fuß über die Ferse des linken und kippelte ungeduldig mit dem Stuhl, so daß man, über Ringelsöckchen mit Strumpfhaltern, das weiße Fleisch seiner Waden sah.
    An einem Märztag schrieb er im Geschichtsunterricht eine Frage an die Tafel, ließ Bücher und Hefter unter die Pulte räumen. Unangekündigte Klassenarbeit. 1983, Karl-Marx-Jahr; Wandzeitungen hatten sich mit Artikeln zum Werk des prophetenbärtigen Philosophen gefüllt und die schwarzumränderten Breshnew-Porträts allmählich verdrängt. Am 1. Mai, dem Internationalen Tag der Arbeit, der ein Feiertag war, sollte es einen »Karl-Marx-Umzug der Schülerinnen und Schüler aus POS und EOS« geben, hatte Gesamtdirektor Fahner bei einem Appell verkündet. Die Frage Schnürchels lautete: »Woran ist die Gesetzmäßigkeit des Siegs des Sozialismus über den Kapitalismus zu erkennen? Stützen Sie Ihre Argumentation auf den Marxschen Geschichtsbegriff!« Umstandslos begannen die Stifte zu kritzeln. Christian ärgerte sich; er war schlecht vorbereitet. Auf jede Zensur kam es an – aus dem Notendurchschnitt wurde die Gesamtnote gebildet, und wer, wie Christian, Medizin studieren wollte, mußte in der 11. Klasse, mit deren Zeugnis man sich um die Studienplätze bewarb, nahe bei 1,0 stehen. Er begann die Frage in ihre Bestandteile zu zerlegen. »Woran« und »Gesetzmäßigkeit« und »Marxscher Geschichtsbegriff« schienen die Kernworte zu sein. Marxscher Geschichtsbegriff … Es wollte ihm dazu nichts einfallen. Er erinnerte sich an den Geschichtsraum in der POS »Louis Fürnberg«, wo an der Wand in wenigen Tableaus,darunter lief ein Zeitpfeil aus dem Dunkel zum Licht, die Geschichte der Menschheit dargestellt war: Urmenschen mit erhobenen Speeren vor einem Mammut, die haarigen Frauen beim Früchtesammeln, die Jungen beim Pfeileglätten oder Faustkeilschlagen; dann römische Köpfe, tief unters Joch gebeugte Sklaven, in deren Augen schon das Feuer der Spartakusaufstände glomm … Im Mittelalter wehte der Bundschuh an den Sensen; dann das Bild aus den Tagen der Französischen Revolution mit der über die Barrikade stürmenden barbusigen Freiheit (die Brust war von Schülern, die Geschichte zum Anfassen suchten, bis zur Konturlosigkeit abgegriffen); dann kam das Zeitalter der Bartköpfe: Marx, Engels, Lenin, und dann kam nichts mehr, denn die Zimmerwand war zu Ende, der Zeitpfeil stoppte an der Ecke. Dort klebten stets besonders viele Kaugummis … Wenn man die Frage Und weiter? stellte, glitten Frau Dreiecks Augen, Lehrerin für Geschichte, Direktorin der POS, in träumerische Fernen, und sie gab eine Antwort, in der viel Licht und Luft vorkam, Christian mußte an Pionierlager denken … Übergang des Imperialismus, Orchideenstadium (Sumpfblüten auf faulendem Grund) des Kapitalismus, zum Sozialismus, und dann wich der irgendwie dem oder zerweichte irgendwie zum Kommunismus … Dieses »irgendwie« beschäftigte ihn regelmäßig. Bei dem Wort »weichen« fiel Christian die »Weichenstellung« ein, ein vielgebrauchter Begriff im

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