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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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»Maxim Gorki«, das war ungeschriebenes Gesetz. René Gruber war einerseits unbezweifelbar ein Mathematikgenie, hatte die DDR- und die RGW-Mathematikolympiade in Moskau gewonnen – und das, obwohl seine Mutter, wie manche Waldbrunner boshaft sagten, im Konsum neben dem Ortsangelverein an der Kasse saß und der Vater ein einfacher Forstarbeiter war. Andererseits war René, als man ihn wegen seiner Leistungen, seiner politischen Zuverlässigkeit und seines familiären Hintergrunds als Arbeiterkind zur Internationalen Mathematikolympiade nach New York geschickt hatte, wo er einen Spezialpreis für die eleganteste Lösung bekam, nicht zurückgekehrt, sondern hatte ein Angebot von einer amerikanischen Universitätangenommen. Von nun an galt er als republikflüchtig und Verräter. Baumann gebrauchte niemals dieses Wort, wenn er von René Gruber sprach, das fiel Christian auf. Je näher die Rente kam, desto ausschließlicher interessierte sich Herr Baumann für die Mathematik, den reinen Bezirk der zwingenden Beweise und unwiderleglichen, kristallklaren Schlußfolgerungen.
    Beim Unterricht in den Laborkabinetten saß Verena in der Bank neben Christian, nur durch die Armaturenreihe von ihm getrennt. Siegbert Füger kitzelte: »Na, Christian, das Fräulein Winkler scheint dich zu beeindrucken.«
    »Ach, woher!«
    »Guckst bloß dauernd zu ihr rüber.«
    Wenn es sogar Siegbert Füger auffiel, der in der Fensterreihe saß, mußte er vorsichtiger sein. Wahrscheinlich hatte es dann auch Verena bemerkt. Deswegen die brüsken und schnippischen Kommentare, wenn er sie morgens zum zweiten Mal grüßte – was er, wie er sich eingestand, zugleich aus Höflichkeit und einer gewissen Boshaftigkeit tat … Natürlich war die Höflichkeit übertrieben, und da Verena auf seinen ersten Gruß zu nicken pflegte, konnte sie weder taub sein noch ihn im Schülergedränge überhört haben. Er wollte ihre Stimme hören, denn ihre Stimme, ein Alt mit schon fraulichen Unterschwingungen, faszinierte ihn; er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen. Seine Faszination ging so weit, daß er, wenn er in ihrer Nähe stand, schlechte Witze riß, die Falk Truschler oder Jens Ansorge zum Lachen bringen sollten, in Wahrheit aber an Verena gerichtet waren, um ihren Widerspruch, sogar Unmut zu provozieren, den er auch oft genug zu hören bekam … Dann fiel ihm manchmal eine besonders schlagfertige Antwort ein – zumindest glaubte er, daß sie schlagfertig sei; das Verstummen von Jens und Falk schien das zu bestätigen. Auch Verena verstummte dann und musterte ihn, und diesen Blick in seinem zu spüren, dieses Schattendunkel, das ohne Kälte war, empfand er als etwas Köstliches, das die Scham über seine Pickel weit überwog. Halt an, bleib da! flackerten seine Augen, doch ihren Blick konnte er nicht deuten: Ob er, Christian, eben seine letzte Chance verschenkt und sich für sie zum unrettbaren Idioten gestempelt hatte … Und nach einem solchen Blick entblödete Jens sich nicht, ihm zu stecken, daß erdiesen Moment der Stille und Verblüffung zwischen ihnen ausnutzen und Verena küssen solle. »Das würdest du tun?« hatte Christian angewidert gefragt.
    »Klar, du Blödmann, die Alte ist scharf auf dich, das sieht doch ’n Blinder!« röhrte Jens.
    »Doch nicht auf diesen Großstadt-Pfau!« hieb sie zurück.
    »Woher weißt du das eigentlich?« brauste er auf. Wie hübsch sie jetzt aussah.
    »Spielst Cello im Keller, daß es jeder hört, du … Angeber! Unser begnadeter Künstler versinkt immer genau dann in sein Spiel, wenn die 11/1 Schluß hat und er den größten Effekt erzielen kann, besonders bei Kerstin Scholz!«
    Es stimmte. An Kerstin Scholz, besonders aber an ihre Figur mußte Christian in der Tat oft denken, wenn er im Keller übte. Es kam dann eine gewisse Intensität in seine Übungsstücke.
    »Ach, was muß ich leiden«, spöttelte Verena, »aber nur vor den anderen!«
    »Du hörst also zu.«
    »Bilde dir bloß nichts ein!«
    Ihre Frechheit imponierte ihm … »Ach weißt du, du … Hübsche«, parierte er lahm. Jens machte eine Würgbewegung. Verena war knallrot. Falk grinste. Sie drehte sich wortlos um.
    Herr Schnürchel war auf eine Weise sonderbar, die Christian zum Mitläufer Schnürchelscher Spiele werden ließ. Christian dachte, abends: Er hat gelächelt, als du die Moskauer Aussprache des Buchstabens Schtscha endlich richtig hinbekamst. Cremig wie ein Softeis. Einerseits schlich Herr Schnürchel mit wildlederweichen Schritten durch

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