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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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mit Uhren, die verschiedene Weltzeiten anzeigten, auf den Ziffernblättern standen in schwarzer Schrift die Ortsnamen: Djakarta, New York, London, La Valetta, Moskau, Wladiwostok, Lima, Peking und viele andere; der kleine Philipp lauschte dem Klacken der Zeiger und wollte wissen, wer in diesen Orten wohnte. Gegenüber der Uhrenwand begannen die Paternosteraufzüge der Behörde anzulaufen.
    »Hier trennen wir uns«, Richard wies auf die Uhren. »Treffen wir uns um zwölf?«
    »Es gibt ja die Rufanlage«, sagte Meno. »Falls einer noch warten muß, kann er den anderen ausrufen lassen. – Viel Glück.« Regine und Richard nickten. Meno sprang in einen Paternoster.
    »Also zweiter Stock, Flügel F«, vergewisserte sich Regine. »Komm, Philipp.« Sie nahm den Jungen bei der Hand; er steuerte zielsicher auf einen Paternoster zu. Im zweiten Stock blickten sie von einer Rotunde in einen Lichthof. Angestellte in grauen Kitteln eilten hin und her, manche schoben Akten auf gedämpft rollenden Wägelchen, abgewetzter Teppichboden schluckte die Schritte, das Hüsteln hinter den Türen, entferntes Gemurmel. Von der Rotunde, in die ein Glas-Kronleuchter im Eiszapfen-Geschmack des Kremls ragte, zweigten strahlig Flure ab.
    »Den Ritter anfassen«, verlangte Philipp, und Richard hob ihn hoch, so daß er die steinernen Figuren auf der Rotundenbrüstung erreichen konnte: Männer mit Schilden und erhobenen Schwertern; in den meisten der fein ausgemeißelten Gesichtszüge stand Verblüffung, sogar Überrumpelung, die der Bildhauer wie durch ein Seihtuch mit tieferen Flüssigkeiten: Ruhegewissen, neue Verhandlungen in älterem Licht besehen, Spuren von humoristischer Feilschlust, versetzt hatte; die verwitterten Harnische trugen sonderbare Stachel auf den Schulter- und Brustplatten, Richard mußte an eine seltene Krankheit denken, bei der die Haut des bedauernswerten Patienten Hornstachel entwickelt hatte, er sann auf den Namen, aber nur die Vorsilbe Ichthyofiel ihm ein. Philipp vermochte die Stachel nicht abzubrechen und sagte lachend, wie vorsorglich, »Au«, als er einen davon mit der Fingerkuppe berührte. Der Bildhauer mußte viel Mühe darauf verwendet haben, den Stein so bleistiftscharf zuzuspitzen. Jetzt tickte etwas, wie das Pendel eines großen, langsam gestellten Metronoms. Richard sah aus dem Fenster, es mußte von draußen kommen, von den Fördertürmen hinter der Behörde, im Sperrbezirk der Kohleninsel.
    Zweiter Stock, Flügel F. Flure, die von verschlissenen roten Läufern belebt waren und muffig rochen. Entferntes Staubsaugergedröhn, Schreibmaschinengeklapper hinter geschlossenen Türen, Warteschlangen vor offenen. Stempelknallen, Gewisper,das Knirschen starker Papierstöße, die von Bürolochern gestanzt wurden, Nähmaschinensurren. Bestimmte Akten wurden in die Ordner eingenäht, eine Übernahme aus der Sowjetunion und dort ursprünglich ein Brauch der zaristischen Geheimpolizei Ochrana, wie Richard von einem Patienten, der auf der Kohleninsel arbeitete, erfahren hatte.
    »Und du meinst, daß wir direkt in diesem Büro vorsprechen können?« zweifelte Richard. »Normalerweise muß man doch erst einmal in die Zentrale Anmeldung?«
    »Die Einladung gilt doch direkt, und ich weiß doch, wohin ich muß, dazu brauche ich doch nicht in die Zentrale Anmeldung zu gehen«, meinte Regine. Der Sachbearbeiter am Schreibtisch vor Flügel F aber wußte es besser: »Sie haben noch keinen Schein aus der Zentralen Anmeldung, Sie können nicht einfach vorgelassen werden, Bürgerin Neubert –«
    Regine protestierte, diese Anmeldung sei reine Zeitverschwendung, was solle sie sich da unten anmelden, wenn ihr Termin doch hier –
    Der Sachbearbeiter verwies auf die Vorschriften, an die habe sich die Bürgerin zu halten!
    Regine zuckte die Achseln. Richard folgte ihr, sie eilte voran, ließ sich von den Abzweigungen, die in immer neue, immer gleich aussehende Gangsysteme mündeten, nicht beirren. Nicht einmal die Grünpflanzen auf den Fenstersimsen unterschieden sich nennenswert voneinander: gutgenährte Exoten mit dickfleischigen Löffelblättern, von denen sorgfältig der Staub gewischt war. Pro Flur ein kupfernes Gießkännchen mit einer ibisschnabelartigen Tülle.
    Sie passierten eine Rotunde, und Richard glaubte schon, daß sie sich verlaufen hätten und zurück zur ersten gelangt seien – der gleiche Eiszapfen-Kronleuchter mit tausenden Behängseln aus milchig trüben Straßflittern, die gleichen Balustersäulen der

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