Der Turm
schloß die Augen, so sonderbar waren diese fernen, wie aus einem Aquarium schwappenden Stimmen. »Nein … Nein.« Er konnte nicht reden, nicht jetzt, nicht am Telefon, und überhaupt: zu seiner Mutter. Er war, wenn er Probleme hatte, nie zu seiner Mutter gegangen. Auch nicht zu Richard. Sondern zu Meno, den er im Hintergrund hörte. Also konnte er auch bei ihm nicht anrufen.
»Christian, ist irgendwas passiert?« Jetzt war sie mißtrauisch geworden; die Besorgnis in ihrer Stimme kannte er.
»Nein, wirklich nicht. Ich … wollte eigentlich nur Robert was fragen, ist er da, es geht um die Tomita-Platte …«
»Nein, er ist mit Ezzo bei Uli.«
»Es hat auch Zeit bis zum Wochenende. Ist Niklas bei euch?«»Ja, und Wernstein.«
»Schöne Grüße, Mam.«
»Kommst du am Wochenende?«
Christian antwortete unbestimmt, aber munter, erzählte von der Geschichtsarbeit und der Zwei minus und wie sehr er sich ärgerte, erzählte von den Umständen dieser mäßigen Note, so daß er zum Schluß das Gefühl hatte, daß Anne nicht mehr fragen würde.
18.
Die Kohleninsel
Gratig wie eine Karstlandschaft, ein Geschiebe aus gezackt aufgetürmten Eisschollen, lag die Kohleninsel vor den vier Besuchern, von denen drei ihre Passierscheine dem Brückenposten vorwiesen, bevor sie, Richard hob den kleinen Philipp von den Schultern und gab ihn Regine an die Hand, über die Kupferne Schwester auf die Behörde zugingen. Nebel hing über Ostrom, der Pfiff der Schwarzen Mathilde, die aus dem Tunnel bog und sich dem Heizwerk ankündigte, klang gedämpft. Der Schnee auf der Brücke war schon zu dieser Morgenstunde von vielen Schuhen abgetreten; es war der erste Dienstag im Monat, Behördentag. Meno schirmte die Augen ab, das Weiß blendete, und er sah, daß es die ersten scharfen Strahlen der Märzsonne waren, die auf den grob abfallenden, frostüberkrusteten Dächern der Gebäude und ihren bald wasserklaren, bald aus verwirrendem Kreisen, ähnlich den Tautropfen auf einem Spinnennetz auseinandersplitternden, plötzlich zu vielblendiger Prismatik erstarrten Fenstern Funken zündeten, die als ein Lichtdurcheinander aufflackerten und in den Achsenbrüchen der Gebäudetiefen unzählige Echos fanden: dies hatte das Bild, die aufgestauchten Quarz-Tafeln, Joche, Eisnadeln, erinnert.
Sie waren vor der Öffnungszeit gekommen und stellten sich in die Warteschlange, die vom Säulenportikus des Eingangs bis zum Marx-Engels-Ehrenhain in der Mitte des Hofs reichte, der leer und für eine Menschenstimme kaum zu überbrücken sein vom Schnee beräumtes und saubergefegtes Betongrauentwickelte. Marx und Engels hielten Bronzebücher in der Hand und schienen darin zu lesen; auf ihren Köpfen rasteten Krähen, die der Wachhabende Soldat des Ehrenhains, da er sich nicht bewegen durfte, mit wiederholtem Zungenschnalzen zu vertreiben suchte. Einige Wartende beobachteten ihn mitleidig und hoben die Hände, um zu klatschen, bekamen sie aber von Bekannten, die weniger mitleidig waren und den Säulenportikus fixierten, heruntergedrückt. Bei »Hundert« gab Richard das Zählen auf, öffnete die Tasche, vergewisserte sich, ob das Gutachten immer noch da war (aber wer hätte es ihm wegnehmen sollen, er hatte die Tasche selbst gepackt und kontrolliert, bevor er das Haus verließ); auch Meno hatte seine abgewetzte Angestelltentasche geöffnet und wühlte in Papieren. Regine preßte den Geigenkasten an sich, gab Philipp frei, der sofort zum Wachhabenden des Ehrenhains lief, der, als die Uhren im Behördengebäude zu schlagen begannen, seine Maschinenpistole mit eckigen Griffen in Habachtposition versetzte, unterm Stahlhelm starr geradeaus blickte und für die nächsten Stunden, bis zur Ablösung, nicht zu erkennen geben würde, ob er die vorn sich zerstreuende, hinten nachwachsende Besucherschlange wahrnahm, ob er überhaupt etwas wahrnahm: Philipp zupfte ihn an der Uniform, schnitt Grimassen, aber nur zur verhaltenen Erheiterung einiger Wartender. Die Schlange rückte vor. Bläulich, purpurn, violett spielten Lichtreflexe über den Pfeffer-und-Salz-Granit des Vestibüls. Eine Kordel regulierte den Zugang zum kioskartigen Verschlag eines Pförtners, der inmitten von Telefonen hockte, die an Wandscheren betont langsam, als wären es Tentakel von Seeanemonen, aus- und einfuhren. Vielleicht eine defekte Steuerung, dachte Meno.
Die Besucher brachten ihre Anliegen vor, öffneten ihre Taschen zur Kontrolle und durften passieren. Hinter dem Pförtnerhäuschen gab es eine Wand
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