Der Tyrann von Hades
Menschheit zu schaffen? Plötzlich war sich Ancor der Antwort nicht mehr sicher. Es gab klare Hinweise darauf, daß das Solare Universum sich nicht unendlich ausdehnen konnte. Die Gesetze der Physik verboten den Bau neuer Schalen.
Sine Anura fand Ancor über den Computer-Bildschirm gebeugt. Die Konzentration des ehemaligen Mörders war so tief, daß sie beinahe einer Trance gleichkam. Ein Blick auf den Schirm verriet ihr, was in ihm vorging. Eine Liste verzeichnete alle großen Schalen Solarias sowie ihre geschätzten Bevölkerungszahlen: Merkur, Venus, Erde, Mars, Aster, Jupiter, Boxa, Saturn, Uranus und Neptun. Unter der Liste fand sich die Summe aller Einwohner Solarias: 60 Quadrillionen, eine Zahl mit fünfundzwanzig Nullen. Ancor hatte offensichtlich einige zusätzliche Berechnungen begonnen, und das enorme Ausmaß der Probleme hatte ihn in den Bann gezogen.
Nach einiger Zeit bemerkte er Sine und sah zu ihr auf; auf seinen Lippen lag ein klägliches Lächeln.
»Es geht nicht, Maq«, sagte sie. »Kein Mensch kann sich alle Probleme Solanas aufbürden.«
»Vielleicht sehen wir klarer, weil wir fast durch ganz Solaria gereist sind, Sine. Man kann die Bevölkerung zwischen den Schalen verschieben, wie man will, aber die Antwort bleibt dieselbe: Im Solaren Universum gibt es fast keinen Platz mehr für Menschen. In dreißig Jahren muß Solaria die doppelte Anzahl Menschen beherbergen und in sechzig Jahren sogar das Vierfache. Was wird geschehen? Wird die Menschheit an ihrer eigenen Masse ersticken? Oder gibt es jenseits der Pluto-Schale einen Ort, an dem Menschen existieren können?«
»Das wissen wir nicht, Maq. Niemand ist je so weit vorgestoßen und wieder zurückgekehrt.«
»Dann werden wir es tun, Sine. Eines Tages werden wir mit der Shellback an den Rand des Universums fliegen.«
»Das ist ein langer Flug, Maq.«
»Ein sehr langer. Aber dort draußen gibt es Regionen, die unsere Vorstellungskraft übersteigen. Dort draußen gibt es Dinge, die selbst Zeus nicht bändigen kann. Wenn es für die Menschheit eine Zukunft gibt, dann beginnt sie dort an der äußersten Grenze. Ich will den Rand des Universums sehen, Sine. Ich muß herausfinden, wie es dort aussieht.«
Sie strich über seinen Kopf, auf dem sich die ersten roten Stoppeln zeigten. »Das müssen wir beide erfahren, Maq. Und wohin du gehst, gehe auch ich. Wir waren ja schließlich kein übles Team im Kampf gegen den Tyrannen.«
»Natürlich mit ein wenig Unterstützung durch unseren Freund Zeus. Ich habe herauszufinden versucht, wie sein Trick genau funktionierte. Wie konnte er sich die Herrschaft über die gesamte Neptun-Schale wieder aneignen, indem er ein einziges Exekutivzentrum neu programmierte? Ich denke, die Antwort ist, daß wir den Tyrannen nicht getötet haben, sondern uns seiner bemächtigten. Der Tyrann war nichts anderes als die Verschwörung einer Reihe von Exekutivzentren überall auf der Schale. Zeus’ Programm machte eines von ihnen sehr viel mächtiger als die übrigen. Und solange dieses Zeus treu bleibt, müssen sich ihm die übrigen fügen. Das ist nichts anderes als das Säbelrasseln in der Politik der Menschen. Wir haben den Tyrannen lediglich durch einen mächtigen König ersetzt.«
»Lang lebe der König!« rief Sine Anura.
Irgendwo viele Millionen Kilometer vor ihnen zeichnete sich ein winziger Fleck am Horizont ab, der nichts anderes als einen jener ›Vulkane‹ darstellte, die über der Öffnung zu einer Käfigwelt thronten. Daß ein derart mächtiges Gebirge bis zur Belanglosigkeit zusammenschrumpfte, war ein Gradmesser für die schwindelerregenden Dimensionen der Neptun-Schale. Die Mannschaft der Shellback suchte eifrig den Horizont ab; jeder wollte der erste sein, der den winzigen Punkt des Vulkans fand. Ancors Augen sahen unterdessen in die entgegengesetzte Richtung. Er blickte in den Hades-Raum, wo der Theorie zufolge die noch größere Pluto-Schale liegen mußte. Und jenseits der Pluto-Schale…? Das Ende oder ein neuer Anfang?
Seine Augen konnten ihm darauf keine Antwort geben. Er blickte unerschütterlich in den Himmel, und seine Gedanken überbrückten die Milliarden von Kilometern bis zum Rand des Solaren Universums. Er wußte, daß ihm das bald nicht mehr genügen würde. Bald würde er mit eigenen Augen sehen, was jenseits Solanas lag…
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