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Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition)

Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition)

Titel: Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilija Trojanow
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Wenigen ist), weil sie keiner Lohnarbeit nachgehen, per se eine parasitäre Existenz führen. Hat man das einmal verinnerlicht, liegt die unsentimentale Frage nahe, wieso die Gesellschaft solche Parasiten durchfüttern soll. Alle propagandistischen Wege führen dann zu der logischen Schlussforderung: Es gilt die Armen zu bekämpfen, nicht die Armut.

Die Rache des Kellners
    One, two, three, four
    join the Marching Jobless Corps
    worked & paid our union dues
    what did years of that produce?
    Houses, cars & other shit
    for the riches benefit
    what do workers get for pay
    hungry, broke & thrown away
    Daniel Kahn, March of the Jobless Corps
    Im Gegensatz zu den wohlfeilen Euphemismen, die täglich medial durch die Echoräume unserer Gleichgültigkeit hallen, reden die Reichen entre eux gelegentlich Tacheles. Im Sommer 2012 nahm ein Kellner die Rede des Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, Mitt Romney, auf und spielte sie der Zeitschrift Mother Jones zu. Der Kellner (wohl »promigeil« konditioniert wie viele von uns) hatte eigentlich vor, sein Smartphone zu nutzen, um sich Seite an Seite mit Romney ablichten zu lassen, doch kaum hob dieser mit seiner Tirade an, verwandelte sich der Souvenirjäger ad hoc in einen investigativen Journalisten.
    Romney hatte zuvor wie jeder andere Präsidentschaftskandidat tagein, tagaus verkündet, dass er allen Amerikanern helfen wolle, dass ihm das Wohl aller am Herzen liege, er wurde nicht müde, auf die wachsende Zahl der in den letzten vier Jahren verarmten Menschen hinzuweisen (in den USA sind inzwischen 47 Millionen, etwa ein Sechstel der Bevölkerung, von Lebensmittelmarken abhängig). Meist schloss der gläubige Mormone mit dem Satz: »This is a campaign about helping people who need help.« In Florida aber, bei einem Dinner mit extrem vermögenden Unterstützern, ließ er die rhetorische Maske fallen: 47 Prozent der Bevölkerung seien Parasiten, die vom Staat abhingen, keine Steuern zahlten, Ansprüche stellten und sich zudem noch als Opfer des Systems begriffen (übrigens nennen ebenfalls 47 Prozent kein Vermögen ihr Eigen). Mitt Romneys Stimme triefte vor Verachtung.
    Kaum wurde dieser ehrliche Ausrutscher öffentlich, erklärte Romney in einer eilends einberufenen Pressekonferenz mit zuckriger Stimme, er wolle für all diese Menschen Jobs schaffen, die ihnen ein würdigeres Leben ermöglichten. Das ist reine Augenwischerei. Als international erfolgreicher Geschäftemacher weiß er, dass es angesichts fortschreitender Globalisierung und Automatisierung unmöglich sein wird, für den allergrößten Teil dieser Menschen menschenwürdig bezahlte Arbeit zu schaffen – die von ihm gegründete Bain Capital schloss just in jenen Wahlkampftagen den profitablen Automobilzulieferer Sensata in Freeport, Illinois, um die Produktion nach China zu verlegen.
    Die spontane, subversive Reaktion des Kellners offenbart, welche Gefahren auf die oligarchischen Eliten samt der Hybris ihrer sozialdarwinistischen Haltung lauern: Das Prekariat, aus dessen Reihen sich die billigen Arbeitskräfte rekrutieren, die ihnen Cocktails servieren, könnte es eines Tages leid sein, allein auf Trinkgelder zu hoffen (in vielen US-amerikanischen Bundesstaaten beträgt der Mindestlohn pro Stunde in dieser Branche sage und schreibe 2,13 Dollar). »Eat the Rich« hieß ein wunderbarer englischer Film aus dem Jahre 1987, eine satirische Antwort auf die Politik Margaret Thatchers. Wer wen am Ende frisst, wird sich noch erweisen.
    Die Welt ähnelt zunehmend den Zügen im indischen Bundesstaat Bihar, der rückständigsten Region des Subkontinents. Einige wenige haben es sich in der 1. Klasse bequem gemacht, weitere Halb- und Viertelprivilegierte sind in der 2. und 3. Klasse untergebracht, beengt, aber immerhin mit einem Dach über dem Kopf, vor Sonne und Regen geschützt im Gegensatz zum Großteil der Passagiere, der dem Wetter ausgesetzt ist, auf dem Dach sitzend, an den Türen hängend, zwischen den Wagen kauernd. Gelegentlich fällt einer aus Müdigkeit und Schwäche vom Zug, während andere aufzuspringen versuchen, oft vergeblich, denn der Zug fährt inzwischen mit einer Geschwindigkeit, die es einem unmöglich macht, wie einst in den gemütlichen Hollywood-Filmen dem Zug hinterherzulaufen. Die Züge rasen in eine zwielichte Zukunft, und jene, die sich von außen daran klammern, haben panische Angst, dass sich ihr schwächer werdender Griff eines düsteren Augenblicks lösen wird.
    Die Schattenseite des

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