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Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition)

Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition)

Titel: Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilija Trojanow
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Überflusses ist der überflüssige Mensch.

Stigmatisiert, selbstoptimiert
    Im Mai 2013 brannten die Straßen in Husby, einem Stadtteil von Stockholm. Ob er denn glaube, das Anzünden von Autos könne Probleme lösen, fragte eine TV-Journalistin einen der Brandstifter.
    »Nein«, sagte der junge Mann, »aber jetzt hören uns wenigstens alle zu.«
    Die Reporterin des schwedischen Fernsehens SVT setzte nach:
    »Was wollt ihr denn sagen, jetzt, da alle zuhören?«
    »Wir wollen behandelt werden wie alle anderen.«
    Der schwedische Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt interpretierte die Revolte anders: »Wir haben es mit jungen Männern zu tun, die glauben, man kann und soll die Gesellschaft mit Gewalt verändern.« Abgeschminkt gesagt: Wenn die Unsichtbaren aufbegehren, wollen sie eine Gesellschaft verändern, zu deren Mängeln es gehört, junge Menschen wie diese auszugrenzen. Die Proteste wurden – wie viele andere in europäischen Großstädten in den Jahren zuvor – durch polizeiliche Willkür entzündet (ein älterer Mann verstarb in Polizeigewahrsam unter merkwürdigen und ungeklärten Umständen). »Wir fühlen uns von der Polizei schikaniert«, sagte noch der junge Mann in dem Fernsehinterview. Kontrollen und Drogenrazzien seien an der Tagesordnung.
    »Wir möchten«, fügte ein anderer Aktivist hinzu, »dass die Politiker hierherkommen und mit uns Jugendlichen sprechen.«
    Der Stigmatisierte wünscht sich – geradezu rührend bescheiden –, sichtbar zu sein und als Gesprächspartner respektiert zu werden.
    Wie kann ein Leben wertlos und gleichzeitig Träger universeller Menschenrechte sein? Um dieses moderne Paradox zu erklären, bedient sich der italienische Philosoph Giorgio Agamben des Rückgriffs auf eine Figur aus dem römischen Recht, des Homo sacer, der ungestraft getötet, aber nicht geopfert werden durfte. Er befand sich außerhalb des Rechtssystems, weder geschützt durch Normen noch durch religiöse Gebote (trotz seines geheiligten Namens). Er befand sich außerhalb menschlichen wie göttlichen Rechts. Als Geächteter oder Gesetzloser ausgegrenzt zu werden war in den zwei Jahrtausenden seitdem das Schicksal jener, die sich in das herrschende System nicht fügen wollten oder konnten. Auch im Mittelalter wurde die Tötung eines Geächteten nicht sanktioniert, im Gegenteil, manchmal wurde sie sogar belohnt. Um diese Aussonderung innerhalb eines herrschenden Dogmas zu rechtfertigen, das von der gottgegebenen Würde des Einzelnen ausgeht, musste der menschliche Wert des Betroffenen negiert werden. Das deutsche Wort »vogelfrei«, seit dem 16. Jahrhundert in Gebrauch, deutet es semantisch an: ein Vogel gehört demjenigen, der ihn fängt. Er darf ihn rupfen oder essen, halten oder freisetzen. Manchmal galt der Gesetzlose rechtlich als verstorben, seine Frau als Witwe, seine Kinder als Waisen, mit entsprechenden Folgen für das Hab und Gut der Familie. Die Zerstörung oder Konfiszierung seines Eigentums waren die logischen Folgen dieses »rechtlichen Todes«, der in einigen Aspekten der Lage der Stigmatisierten in unserer Zeit entspricht, die sich allerdings durch ihre missliche soziale Lage quasi selbst enteignet haben – die Folge ist der konsumbürgerliche Scheintod.
    Geächtet, gar wertlos waren jahrhundertelang auch jene, die draußen vor der Festung der Zivilisation hausten. Der Begriff Rechtsordnung beinhaltet auch eine Welt jenseits des Regulierten, deutet auf einen bedrohlichen Wildwuchs, der von der Zivilisation bezwungen werden muss, gerodet, geordnet und desinfiziert, um sich gegen jene zu schützen, die das Chaos in sich tragen wie einen tödlichen Bazillus – den Eingeborenen. »Exterminate all the brutes« (Rottet die Bestien alle aus), schreibt der an seinem zivilisatorischen Auftrag verrückt gewordene Kurtz als letzten Eintrag in sein Notizbuch. In ihrer eurozentrischen Verblendung haben unzählige Literaturwissenschaftler Joseph Conrads »Herz der Finsternis« auf das barbarische Afrika bezogen und nicht auf das genozidale Europa, das sich aufgemacht hatte – ausgestattet mit Größenwahn und überlegener Technik –, den Dschungel niederzubrennen, mit Hecken zu bepflanzen und in der Folge alles Ungeziefer zu vertilgen. Die vogelfreien Barbaren waren schlimmer als überflüssig, sie standen dem gottgenehmen Fortschritt im Weg, sie waren antiquiert und anachronistisch, insofern hat man ihnen den Gefallen der Vernichtung getan, indem man sie aus ihrer zwar unverschuldeten, aber

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