Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition)
Entwicklungen, die in den Filmen und Büchern zur finalen Explosion gelangen, sind schon im Gange, unsere nachvollziehbaren und begründeten Ängste erfahren im Kino ersatzweise Bestätigung. Für diese Vermutung spricht, dass bis in die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts ein nuklearer Krieg Auslöser der filmischen Katastrophe war, entsprechend den damals vorherrschenden Befürchtungen. Seitdem haben Klimaumwälzungen und Epidemien den atomaren Erstschlag ersetzt.
Da der kommerzielle Erfolg von Filmen von Teenagern und jungen Erwachsenen bestimmt wird und sich diese meiner zugegebenermaßen begrenzten Erfahrung nach eher Sorgen um ihre persönliche als um die planetare Zukunft machen, funktionieren die Dystopien und Apokalypsen vielleicht eher als Negativ, vor dem die Belastungen und Herausforderungen der eigenen Existenz verblassen. Wer in Zeiten erhöhter Unsicherheit und zunehmenden Konkurrenzdrucks lebt, wer nicht weiß, ob er in dieser Gesellschaft ein würdiges Auskommen findet, ob er gebraucht wird, der lässt sich trösten von der grotesken Überzeichnung seiner Verunsicherung. Der Horror und das Chaos auf der Leinwand oder dem Bildschirm versöhnen uns mit der Dystopie light der Gegenwart. In diesem Sinne erfüllen Endzeitfilme eine ähnliche Rolle wie seit Längerem schon die Obdachlosen, die den braven Bürgern und Bürgerinnen täglich vor Augen führen, wie tief sie stürzen könnten, wenn sie nicht aufpassen, nicht spuren, nicht schuften.
Erstens kann uns eh nix gschehen,
Zweitens ist das Untergehen
’s einzge, was der kleine Mann
Heutzutag sich leisten kann.
Der Untergang ist uns nicht nur recht und billig, sondern auch Beruhigung. So weit, so erschreckend. Bedenklich ist ebenfalls eine weitere zeitgeistige Komponente unserer apokalyptischen Gier: die Entmenschlichung der anderen. In Zeiten liberaler Gesinnung und politischer Korrektheit ist die Dämonisierung und Ausrottung von Fremden in mehr oder weniger realistischen Filmen kaum noch opportun (auch wenn die althergebrachten Ressentiments nationalistischer oder rassistischerer Couleur in letzter Zeit wieder anschwellen), weswegen ein Filmemacher wie Quentin Tarantino auf Nazis, Vampire und Sklavenjäger zurückgreifen muss, um seine Gewaltorgien für das Publikum akzeptabel umsetzen zu können, egal ob man diese im Sinne des Regisseurs als »Befreiungsfantasien« oder kritisch als Instrumentalisierungen begreift.
Nach dem Untergang formiert sich unsere Menschlichkeit neu. Die Serie »The Walking Dead« führt exemplarisch vor, wie alle humanitären Hüllen fallen (außer innerhalb des kleinen Zirkels der eingeschworenen Überlebensgemeinschaft). Zu Beginn der Serie versuchen die wenigen Überlebenden vor den vielzähligen Zombies zu fliehen, die Erinnerung an eine gemeinsame Zeit als Menschen ist noch gegenwärtig, doch im Laufe der ersten Folgen verblasst diese »Sentimentalität«, und es geht nur noch darum, die gefährlichen, aber auch überflüssigen Scheinlebenden möglichst effizient zu vernichten. Bemerkenswert ist das Aussehen der Zombies, die teilweise Noma-Kranken ähneln, also jenen Unterernährten, deren Gesicht von Mikroorganismen zerfressen wird, die das eigene extrem geschwächte Immunsystem nicht mehr abwehren kann. Bei Zombies wie auch bei Noma-Kranken sind Lippen und Wangen verschwunden, die Augen hängen herab, weil sich die Gesichtsknochen auflösen, das Gesicht ist so sehr entstellt, dass wir den einstigen Menschen kaum mehr erkennen. Auf Entstellung folgt Ausgrenzung; was einmal leicht zu heilen gewesen wäre (bei Noma-Kranken würde die Behandlung im frühen Stadium nur zwei bis drei Euro erfordern), ist nun irreversibel. Das Opfer wird zum Feind der Gesunden. Je stärker die Gruppe der Vollwertigen umzingelt wird, desto radikaler stellt sich die Frage der Selbstverteidigung bis hin zu der Überlegung, ob es gerechtfertigt ist, auch einen der wenigen verbliebenen Mitmenschen zu töten, wenn er zu einer Gefahr für die Gruppe werden könnte.
Und natürlich sind die Zombies so überzeichnet, dass der Zombie in jedem von uns im Vergleich harmlos wirkt.
Bei einer Google-Suche zum Stichwort »Noma« beziehen sich die ersten 100 Hits auf das angeblich weltbeste Restaurant gleichen Namens in Kopenhagen. Da das Google-Ranking Ausdruck einer globalen virtuellen Aufmerksamkeit ist, erhält man bei jeder Suche einen Spiegel der Prioritäten und Interessen innerhalb der wohlhabenderen und gebildeteren Schichten, die das
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