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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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Gedanken.«
    Lydia hatte noch eine Woche Schulferien. Sie drehte am Knopf ihrer Strickjacke herum. Die Tasse Kakao, die Gladys ihr gemacht hatte, war kalt geworden. Sie saß in der Klemme: Einerseits wollte sie nicht hilflos wirken, denn dann wäre Gladys eine weitere Woche geblieben – und das wollte sie sich noch nicht einmal vorstellen –, andererseits wollte sie auch nicht undankbar erscheinen.
    »Du könntest ein paar Wochen zu mir kommen«, schlug Gladys vor. »Es würde dich aufheitern.« Sie inhalierte tief aus dem Zigarettenhalter aus Elfenbein.
    »Gladys, du weißt, dass das nicht geht. Unsere Ferien bei dir waren die letzten, die Mutter und ich zusammen verbracht haben.« Sie tupfte sich mit dem Taschentuch aus dem Ärmel die Tränen ab. »Das Ocean Spray würde jetzt schmerzhafte Erinnerungen wecken.«
    »Na ja, wahrscheinlich hast du recht. Aber weißt du, je eher du mit diesen Dingen zurechtkommst, desto besser. Es bringt nichts, Trübsal zu blasen.«
    »Darf ich vielleicht nicht trauern?«, fuhr Lydia sie an, der der Ton der Tante gar nicht gefiel.
    Gladys zuckte mit den Achseln. »Trauer so viel du willst, liebe Lily. Es bringt sie nicht zurück.« Sie zog wieder an der Zigarette.
    »Wie herzlos du bist. Ich weiß ja, dass Mutter und du nie einer Meinung wart, aber Trauer ist die natürliche Reaktion auf den Tod eines Menschen, den man geliebt hat. Wo ist deine Trauer, Gladys? Sie war doch schließlich deine Schwester.«
    »Meine Trauer ist meine Sache! Ja, sie war meine Schwester, doch das Einzige, wozu sie in der Lage zu sein schien, war, alles zu kritisieren, was ich getan habe. Und zu versuchen, mich zu dominieren. Ich fürchte, es war Eifersucht im Spiel. Elizabeth war schlicht und langweilig, und ich war, na, sagen wir einfach – mondäner.«
    Lydia war schockiert. »Wie gemein und selbstgerecht von dir!«
    Gladys zog den Kimono enger um sich, kippte den Rest des Glases herunter und drückte die Zigarette aus. Sie sah Lydia verachtungsvoll an.
    »Ich wäre an deiner Stelle nicht so hochnäsig ...«
    »Ich, hochnäsig?«
    »Du hast ja keine Ahnung!«, zischte Gladys. »Die Wahrheit ist immer kompliziert. Jetzt, wo du alleine bist, musst du dich der harten Wahrheit stellen.«
    »Du bist grausam.«
    »Und du bist naiv!« Sie stand auf. »Ich gehe ins Bett. Ich habe morgen eine lange Reise vor mir.«
    Lydia sah auf die Füße ihrer Tante, auf die lackierten Zehennägel in den wippenden Federpantoletten, und fand, dass sie nichts ernst nehmen konnte, was diese Frau sagte.
    »Ich bin vielleicht naiv, aber wenigstens benehme ich mich altersgerecht, Gladys.«
    »O ja, allerdings! Und guck doch nur, wohin dich das gebracht hat!« Gladys’ Busen hob und senkte sich schnell unter dem Seidenkimono. Sie würde sich von dieser flachbrüstigen kleinen Jungfer nicht zurechtweisen lassen.
    Lydia sah zu ihr auf und fragte sich, wie es sein konnte, dass diese aufdringliche und geschmacklose Frau die Schwester ihrer geliebten Mutter war.
    »Meine Mutter konnte dich nie leiden und ich verstehe, warum.«
    Gladys schnaubte. »Du kennst noch nicht mal die halbe Geschichte!«
    Sie rauschte zur Tür, dann wandte sie sich um.
    »Übrigens, neulich Abend hat hier ein Mann angerufen. Ich habe vergessen, es zu erwähnen. Ein James Irgendwie. Er hat behauptet, er hätte dich über eine Zeitungsanzeige kennengelernt oder so etwas Ähnliches, genauso Lächerliches.«
    Lydia wurde rot. In dem Moment wusste sie, dass sie ihre Tante zutiefst verachtete, und war kurz davor, ihr die Tür zu weisen. Aber sie kannte sich, davon würde sie nur Schuldgefühle bekommen.
    »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
    »Ja, genau das habe ich ihm auch gesagt. Ich habe ihm gesagt, dass ich mir nicht vorstellen könne, dass eine meiner Nichten sich wie ein Flittchen benimmt, nur um einen Mann zu finden, und dass er die falsche Nummer gewählt hat und sich nicht die Mühe machen soll, noch einmal anzurufen.«
    Gladys zog die Tür hinter sich zu. Diese Kaltherzigkeit bestürzte Lydia. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte hemmungslos.
    Am Morgen von Gladys’ Abreise war die Stimmung angespannt, aber oberflächlich freundlich. Der Streit des vergangenen Abends lag wie eine offene Wunde zwischen ihnen.
    Keine von beiden hatte den Wunsch herauszufinden, warum die Dinge, die sie sich an den Kopf geworfen hatten, noch immer so wehtaten. Doch sie entschuldigten sich nicht. Die Zeit würde diese Wunde heilen und sie sprachen nicht mehr

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