Der übersehene Mann: Roman
Handtasche, als wollte sie eine Erscheinung der Jungfrau Maria bekanntgeben. »Er hat volle Verständigkeit, dass Sie nich so lange warten können, weswegen er mir aufgetragen hat, dass ich Sie mal fragen sollte – aber nur, wenns Ihnen nichts ausmacht, natürlich – könnten Sie ihm vielleicht unter Umständen wohl Ihre Telefonnummer geben, das is, wenn Sie eine haben, weil er gesagt hat, er will Sie gerne wiedersehen, denn Sie sind eine echte Dame, und das kann ich mit meinen eigenen Augen beweisen, Lydeea.«
Lydia lächelte und griff nach ihrer Handtasche. Dann schrieb sie ihre Nummer auf und riss die Seite aus ihrem Kalender. Rose faltete sie zusammen und steckte sie ein.
»Wirklich vielen Dank, Lydeea. James wird ganz erleichtert sein, dass Sie sein winzig kleines Problemchen verstanden haben.«
Sie stand auf und ergriff Lydias Hand. »Und ich hoffe, James und Sie lernen sich noch besser kennen«, sagte sie, »denn er is ein guter Bursche mit einem freundlichen Herz, und welche von seiner Sorte gibt es heutzutagenich mehr viel. Gott, seit Sie ihm geschrieben haben, ist er so stolz wie ein Hahn auf dem Misthaufen.«
»Das freut mich, Rose. Vielen Dank, dass Sie mir alles erklärt haben. Hoffentlich sehen wir uns bald einmal wieder.«
Rose eilte in Richtung Toiletten, um die gute Nachricht zu überbringen. Lydia suchte ihre Sachen zusammen – genau in dem Moment, in dem Daphne die Lounge betrat. Daphne runzelte die Stirn, als sie den leeren Stuhl Lydia gegenüber bemerkte.
»Wo ist ...?«
Lydia nahm sie beim Ellenbogen und lenkte sie auf den Ausgang zu.
»Ich erklär’s dir im Auto.«
»Ist es denn nicht gut gegangen?«
»Ja und nein. Es war ...«
Lydia unterbrach sich. Jemand hatte ihr auf die Schulter geklopft. Als sie sich umdrehte, stockte ihr der Atem.
»So, Miss Devine«, sagte ein kleiner glatzköpfiger Mann, »jetzt wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn man im Stich gelassen wird! Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, tut auch ihr ihnen gleicherweise. Lukas 6, Vers 31. Ich persönlich bin Christ – und das ist mehr, als man von manchen anderen hier im Saal sagen kann!«
Frank Xavier McPrunty zupfte seine Krawatte zurecht, schob die Brille hoch und marschierte triumphierend hinaus in den Sonnenschein. Die beiden Damen sahen ihm verblüfft hinterher.
29
Daphne fuhr Lydia zum Krankenhaus, hörte ihr dabei genau zu und versuchte ein Kichern zu unterdrücken, als sie von der merkwürdigen Geschichte des Mr McCloone erfuhr. Als Lydia das städtische Krankenhaus betrat, meinte sie, sich von dieser äußerst merkwürdigen Erfahrung genügend erholt zu haben, um sich ernüchtert wieder mit dem Zustand ihrer Mutter zu befassen.
Drei Wochen waren seit Elizabeths Aufnahme vergangen und in dieser Zeit hatte Lydia sich an die Besuchsroutine gewöhnt. Auch wenn sie es sich selbst gegenüber nicht zugab, hatte sie das Gefühl, dass sie noch sehr lange am Bett der Mutter wachen würde. Die Stunden, die sie bei ihr verbrachte, waren ihr kostbar. Sie eilte den langen Flur hinunter und bereute schon, dass Mr McCloone und seine geheimnisvollen Mätzchen sie so lange aufgehalten hatten.
Doch als sie die Tür zum Zimmer ihrer Mutter aufstieß, bot sich ihr ein unerwarteter Anblick. Das Bett war leer. Jemand hüstelte höflich; sie drehte sich um und sah Schwester Milligan dort stehen.
»Wo ist sie?« Lydia hatte auf einmal große Angst. Sie legte die Hand auf ihr Herz, als wollte sie das Schlagen verlangsamen.
»Es tut mir sehr leid, Miss Devine. Ihre Mutter ist vor einer Stunde verstorben.«
»Nein!« Lydia sah in das unerbittliche, ernste Gesicht. Sie wollte die Krankenschwester anschreien, weil sie so herzlos war. »Das kann nicht sein! Warum sagen Sie so etwas, so etwas Grausames?«
Schwester Milligan hakte sie energisch unter und führte sie zu einem Sessel. Sie war daran gewöhnt, mit der Bestürzung Hinter bliebener umzugehen.
»Wir haben Sie mehrfach angerufen, aber wir konnten Sie nicht erreichen.«
Lydia verstummte. Nach dem ersten Entsetzen stieg langsam Verzweiflung in ihr auf, als die ernsten Worte wirklich zu ihr durchdrangen. Was sie am meisten befürchtet hatte, war geschehen. Sie, sie allein, musste sich dieser kalten Tatsache stellen. Der Tod eines geliebten Angehörigen lässt den Hinterbliebenen keine Wahl, keine Fluchtmöglichkeit, kein Versteck – nur den sengenden, den rohen Schmerz des Verlustes.
Sie wiegte sich vor und zurück und weinte hemmungslos. Die
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